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Es ist demnach nicht gleichviel, liebe
Kinder, ob ihr euer Gefühlsvermögen ab¬
stumpft, oder zart und regsam erhaltet.
Ern gefühlloser Mensch, der bey allen empfanguen
Liebkosungen und Gefälligkeiten ungerührt bleibt, frem¬
des Elend mit trocknem Auge sieht, die herrlichen Werke
der Natur und Kunst kalt vorüber geht, ist bedau-
ernswerth; denn er kennt die edelsten Genüsse des
Lebens nicht; niemand liebt ihn, weil an ihm jeder
Beweis von Liebe nur verschwendet seyn würde; er ist
dem Glücklichen und Unglücklichen gleich zuwider. —
Er ist aber auch aller Laster fähig. Mit
kaltem Blute kann er andre todt kränken; die rüh¬
rendsten Vorstellungen seiner Freunde und Gottes Lang-
muth und Güte vermögen nichts über ihn. Selbst zu
Galgen und Rad geht er vielleicht ohne Reue und
Schaam.
Das Gefühlsvermögen stumpfen wir ab
i.) durch öftere Wiederholung solcher Handlungen,
gegen welche sich unser Gefühl empört; 2.) durch das
elende Vorurtherl, als ob gewisse höchst edle Empfin¬
dungen blose Schwachheiten seyen, wie z. E. das Ge¬
fühl des Mltleidens, der Reue, der Andacht rc. 3.) durch
Gedankenlosigkeit; denn innre Gefühle werden gewöhn¬
lich nur durch Nachdenken erzeugt; 4.) durch Unmäßig¬
keit. Die größte Gefühllosigkeit findet man häufig bey
Trunkenbolden.
Hütet euch aber vor Empfindlichkeit
und Empfindeley. Empfindlich nennen wir
nicht nur den, der jeden kleinen Schmerz in seiner
Vorstellung unmäßig vergrößert, sondern auch den,
der durch jede Kleinigkeit beleidigt wird. Mit Men¬
schen von letzterer Art ist übel umzugehn; bey der
besten Meinung verdient man oft ihren Undank, und
Vorstellungen gegen ihre Fehler bewirken gewöhnlich
' - nur