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Kirche weile. Wir gläubigen Gesichter*) wollen abermals und abermals
den Herrn um seinen Frieden bitten."
Diese Ceremonie mag sich aus den ältesten Zeiten des Christenthums,
wo Heiden und Christen in den Städten Griechenlands noch gemischt waren,
herübergeerbt haben. Doch auch jetzt noch müssen die Juden und Moham¬
medaner, die etwa in der Kirche sein sollten, hinausgehen, weil sie bei dem
bevorstehenden heiligen Momente derVerwandlung nicht zugegen sein dürfen.
Gleich darauf beginnt der Diakon das lange, eigenthümliche Gebet: „Wir
bitten dich, Herr, um das Heil unsrer Seelen! Um die Reinheit der Lüfte!
Um die Mehrung der Früchte! Um die Befreiung der Gefangenen! Um
das Glück der Reisenden! Um die Genesung der Kranken! Wir bitten
dich für unsere Eltern, unsere Brüder, unsere Kinder ! Für die hier ver¬
sammelte Gemeinde und für die, welche sich nicht in der Kirche besinden!
Herr, wir bitten dich!" An dieses allgemeine Gebet schließt sich dann so¬
gleich wieder das besondere Gebet für den Kaiser, seine Familie und den
Staat; es beginnt mit den Worten: „Für Se. kaiserliche Großheit, unfern
großen Herrn, Herrn Alexander, Nicolaus' Sohn, Selbstherrscher aller
Reußen, Gott, wir bitten dich! und für seine Gemahlin, unsere Kaiserin
Maria, Ludwig's**) Tochter, Herr, wir bitten dich!" — und so geht man
das ganze kaiserliche Haus durch, indem alle Mitglieder desselben besonders
namhaft gemacht werden.
Sind nun des Diakonus laute und des Oberpriesters leise Gebete
beendigt, so tritt jener unter einem einfallenden Psalme des Sängerchors
zu diesem heran und spricht langsam und feierlich, auf den Kelch mit dem
Weine weisend, die Worte: „Segne, Wladyka***), diesen Becher!" Hat der
Priester den Wein gesegnet, so fordert der Diakon dasselbe für das Brot
mit den Worten: „Segne, Wladyka, dieses Brot!" Alsdann wird das
Brot zum Wein in den Becher geschüttet und es heißt: „Segne beide!"
Der Moment dieses Segens ist der Augenblick der Verwandlung des Brotes
und Weines. Jetzt fallen die Priester platt am Altar zu Boden, die Ge¬
meinde bekreuzt sich in endloser Bewegung und küßt wiederholt den Boden,
und die Glocken der Kirche brechen auf einmal alle los, damit auch außer
der Kirche dieser Vorgang durch ein Gebet gefeiert werde. Von dem schönen
Psalme, der nun vom Süngerchor angestimmt wird, bekommt man wegen
des unaufhörlichen Geläutes wenig zu hören. Hierauf öffnen sich die könig¬
lichen Pforten des Ikonostas von neuem — denn die letzten feierlichen Hand¬
lungen schimmern nur durch den durchsichtigen Vorhang — und es beginnt
der Schlußact, d ie Verth eilung des h eilig en A bendmahls selbst.
„Tretet herzu mit Gottesfurcht und Glauben," spricht der Oberprie-
ster zu Denen, die das heilige Abendmahl empfangen wollen, und dann
*) Wörtlich übersetzt.
**) Die jetzige Kaiserin von Rußland ist eine Tochter des Großherzogs Ludwigs II.
von Hessen.
***) Meister, Herr.