Object: Länderkunde von Europa und der Atlantische Ozean (Teil 2)

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Gleichförmigkeit des Bodens führte zu gleichartiger Beschäftigung. 
Rußland ist vorzugsweise ein Gebiet der Rohproduktion; Holz 
und Getreide sind neben Flachs, Hanf, Leder und Pelzwerk die über- 
wiegenden Erzeugnisse des Landes. 
Die Einförmigkeit der Ebene, in welcher die natürlichen Per- 
kehrsstraßen lim Sommer die Flüsse, im Winter die Ströme und 
Sümpfe überbrückende Schneebahn) auch entferntere Orte auf bequeme 
Weise verbinden, erzengt Gleichförmigkeit in der Lebensweife, der 
Kleidung, der Sprache. In Großrußland findet sich nur eine 
Volkstracht mit nur ganz geringen Abweichungen, und nur „ein ge- 
übtes Ohr vermag auf Wegstrecken von 100 Meilen einige Ver- 
schiedenheiten der Sprache zu bemerken1". Gleichartigkeit der 
Lebensformen erzeugt gleiche Anschauungen und Empfindungen, und 
so „ mußte mit Naturnotwendigkeit das gleiche Volk — wie wir es 
an den Bewohnern anderer Ebenen auch beobachten können — sich 
zu einer staatlichen Einheit zusammenschließen, wie ungeheuer groß 
auch die Ebene sein mochte, die es bewohnt 2". Tie Einförmigkeit 
der ungeheuren Ebene läßt den Russen überall zu Hause sein- darum 
fehlt ihm die Anhänglichkeit an die Scholle feiner Heimat: daher mag 
es auch kommen, daß der Russe den Ackerbau im ganzen weniger 
liebt als Handel und Gewerbe. Die natürliche Anlage zum Handel 
ist ein Hauptzug in dem Charakter der russischen Nation. Bei dem 
Mangel an Stetigkeit bringt es der Russe selten in einem Stück zur 
Vollkommenheit, obwohl er bei seinem vielseitigen Talent in allem, 
was er unternimmt, schnelle und glänzende Fortschritte macht. Ge- 
winn und Genuß sind das Hauptziel seines Strebens, und die Be- 
stechlichkeit der Beamtenwelt ist bekannt. „Der Himmel ist hoch, und 
der Zar ist weit", das ist der beruhigende Gedanke bei den oft 
schamlosen Betrügereien und Unterdrückungen des niederen Volkes. 
Die ungeheure Raumausdehnung trägt die Schuld wohl auch mit 
daran, daß nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung der allge- 
meinen Schulbildung sich erfreut. An mittleren und höheren Schulen 
ist in allen größeren Städten kein Mangel, und ihr Besuch ist ziem- 
lich stark. Am besten liegen die Schulverhältnisse in den deutschen 
Ostseeprovinzen; nach dem Innern aber nimmt der Prozentsatz der 
die Schule besuchenden Kinder stetig ab, in manchen Gouvernements 
beträgt ihre Zahl nur 3 °/0 der Schulpflichtigen. Noch lebt der 
Bauer in schwerer Abhängigkeit, wenn auch die Leibeigenschast auf- 
gehoben worden ist (1861). Aber der größte Teil der Bevölkerung 
findet sich in sein Los, da er kein besseres kennt, ist sorglosen und 
fröhlichen Gemüts, und die russischen Volkslieder, die sich durch die 
Sanftmut ihrer Melodien und ihren oft schwermütigen Inhalt aus- 
zeichnen, tönen durch das ganze, weite Reich. Groß ist die Anhäng¬ 
1 Händler, Beiträge zur Anthropogeographie Rußlands in Kehrs Päd. Ll. XXIV, S. W5. 
2 Ebenda, S. 326.
	        
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