18 A. Italien
3. Lionardor Arbeitsweise.
a)1 Man erzählt von ihm, er habe keine Bewegung einer Figur
dargestellt, ohne sie vorher im Leben beobachtet zu haben, aus keinem
andern Grunde, als um daraus eine gewisse natürliche Lebendigkeit zu
gewinnen, mit der er dann unter Zuhilfenahme seiner Kunst die Men¬
schen seiner Bilder noch eindrucksvoller machte als die Modelle gewesen
waren. Zeitgenossen, die mit ihm verkehrten, erzählen, er wollte ein¬
mal ein Bild mit lachenden Bauern malen (später wurde es nur eine
Zeichnung). Da wählte er Leute aus, die er für geeignet hielt, machte
sie zutraulich und gab ihnen dann mit Beiziehung einiger Freunde ein
Essen. Dabei setzte er sie in seine Höhe und erzählte ihnen die größten
Schnurren und Lächerlichkeiten von der Welt, so daß sie, ohne seine
Absicht zu merken, lachten, bis sie fast die Mundsperre bekamen. (Er¬
achtete dabei genau aus all ihre Bewegungen und die lächerlichen Heden,
die sie führten, und prägte sie sich ein. Dann, als sie fort waren, ging
er in feine Kammer und zeichnete sie so vollendet, daß die Beschauer
über das Bild nicht weniger lachen mußten, als wenn sie die Geschichten
Lionardos bei der Tafel gehört hätten.
b) (Lionardos Arbeit an dem Abendmahl im Refektorium des Mai¬
länder Dominikanerklosters S. Maria delle Grazie 1495—97)2: (Er
pflegte, wie ich häufig beobachtet habe, oft schon am frühen Morgen
das Gerüst zu besteigen, denn das Abendmahl befindet sich ziemlich hoch
über dem Fußboden, um von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung den
Pinsel nicht aus der Hand zu legen, sondern ohne an Essen und Trinken
zu denken unausgesetzt zu malen. Dann mögen wieder zwei, drei oder
vier Tage verstrichen sein, ohne daß er daran Hand anlegte. Aber dabei
geschah es doch bisweilen, daß er ein oder zwei Stunden dort verweilte
und sich begnügte, die Figuren zu betrachten, zu überdenken und durch
innerliche Prüfung zu beurteilen. Je nachdem die Laune oder die Lust
ihn ankam, habe ich ihn auch um Mittagszeit, wenn die Sonne im
Zeichen des Löwen stand, aus dem alten herzogspalaste, wo er jenes
staunenswerte Pferd aus Ton bildete3, geradeswegs zum Kloster gehen,
dort das Gerüst besteigen und an einer der Gestalten ein paar pinsel¬
striche machen sehen, dann aber brach er unverzüglich auf und ging
anderswohin.
1 Nach öer Erzählung des mailändischen Malers Lomazzo, der zu Ende
des 16. Jahrhunderts schrieb.
i Nach der Erzählung des Novellisten Bandello, der damals im Kloster
Mönch war, f. ID. ü. Seidlitz, Lionardo da Vinci I, 203.
* Das Modell zu dem nie ausgeführten Reiterdenkmal Franz Sforzas.