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immer und überall verpflichtet. Wenn dem so wäre, hätte es freilich mit der Höf¬
lichkeit ein Ende. Aber was heißt denn die Wahrheit sagen? Für mich (und für
Menschen überhaupt) heißt es immer nur so viel als: das sagen, was ich für wahr
halte. Und es ist mir doch mehr als zweifelhaft, ob jeder Mensch verpflichtet, ob
er auch nur berechtigt ist, in diesem Sinne überall und immer die Wahrheit zu sagen.
Ich male mir aus, wie, wenn diese Regel gelten sollte, manche Begegnung, die
jetzt harmlos verläuft, sich entwickeln möchte.
„Ach, Herr Professor, gut, daß ich Sie sehe; ich möchte Ihnen doch mitteilen,
daß ich Ihre Fresken unter aller Kritik finde."
„Aber, Herr Pastor, Ihre Predigten werden immer langweiliger!"
„Häßlich sind Sie einmal, gnädige Frau, aber in diesem geschmacklosen Putz
sehen Sie geradezu garstig aus."
„Sie müssen wissen, Herr Kommerzienrat, daß ich Sie im Grunde für einen
ganz gemeinen Gauner halte."
Es gibt ja Fälle, wo es Pflicht wird, solche Dinge zu sagen; aber in der
Regel hat man nicht einmal das Recht zu derartigen Offenheiten. In den zehn
Geboten steht bekanntlich nicht: „Du sollst nicht lügen", viel weniger: „Du sollst
immer sagen, was du für wahr hältst". Und der Apostel schreibt: „Richtet nicht".
Das gilt vom Richten über Personen, aber auch die sachliche Wahrheit, d. h. was
ich für wahr halte, darf ich keineswegs überall und gegen jedermann aussprechen.
Mit gutem Grunde schließt der gute Ton von dem Gespräche in gemischter Gesell¬
schaft und bei der Begegnung mit Unbekannten alle Themata aus, durch welche die
Leidenschaften in Bewegung geraten könnten. Mit gutem Grunde, weil bei solchen
Gelegenheiten das Disputieren nie der Wahrheit zum Siege verhelfen, wohl aber
nutzlose Erbitterung erzeugen kann. Leider ist man nicht immer gegen indiskrete
Versuche, ein unfriedenstiftendes Thema aufs Tapet zu bringen, gesichert. Es gibt
Leute, die nicht ruhen, ehe sie ihre Ansichten über irgend eine brennende Streit¬
frage, über Zukunftsmusik, Zuckerbesteuerung, Semitentum, verlautbart und zu er¬
kennen gegeben haben, daß sie jeden, der anders denkt, zu zermalmen gesonnen
seien. Gegen solche Aufdringlichkeiten verhält man sich am besten schweigend, und
wenn das nicht hilft, tut man wohl, einfach zu sagen, daß man über diese Dinge
anders denke, und daß man sehr begierig sei zu vernehmen, was für Reisepläne für
den nächsten Sommer gemacht würden.
Mich dünkt, wenn die Höflichkeit in der Tat nur den Lärm der Roheit
dämpfte, nur die Stacheln frecher Selbstsucht abstumpfte, es wäre schon eine große
Wohltat. Wir sind ftoh, wenn die Binde das häßliche Geschwür uns verbirgt, ob
wir schon wissen, daß hinter ihr das Geschwür eitert. Aber die Binde dient nicht
nur zum Verhüllen, sondern sie fördert auch die Heilung. In der höflichen Übung
steckt eine zivilisierende Kraft. Die Sitte vermittelst ihrer Etikette drillt den
natürlichen Menschen, seinen Körper, seine Zunge, seine Leidenschaft anständig zu
beherrschen; sie nötigt ihn, fortwährend zu bedenken, daß die anderen auch da sind.
Erst wenn die elementare Wildheit gebändigt, die Kultur zur unbewußten Gewohn¬
heit geworden ist, kann sich jene höhere Höflichkeit entfalten, die nicht bloß