15. Europa's Ucberlegeuhcit über die anderen Erdtheilc. 59
seiner geistigen Ausbildung zu machen. Europa's Nationen repräscnti-
rcn nicht bloß die höchste intcllectnelle Größe, welche das Menschenge¬
schlecht sich je angeeignet hat, sondern sie beherrschen auch fast alle an¬
dere Nationen des Erdenrundes und stehen im Begriff, ihre Eroberun¬
gen noch immer weiter zu treiben. Hier liegt offenbar der Centralpunkt,
in welchem alle edelsten Kräfte des Menschen in der regsten Thätig¬
keit zusammenwirken. So ist denn Europa der mächtigste aller Erd¬
theile, der Glanzpunkt des ganzen Planeten, die vollendetste Blume der
irdischen Schöpfung.
Und dennoch, welcher Contrast zwischen dieser moralischen höchsten
Bedeutsamkeit und der materiellen Kleinheit dieses Erdtheils! — Nichts
überrascht mehr, sobald man nur die Aufmerksamkeit darauf lenkt. Eu¬
ropa erregt unser Staunen, aber nicht durch so ungeheure Ausdehnun¬
gen, wie sie Asien und Amerika besitzen. Seine höchsten Gebirge errei¬
chen kaum die Hälfte der Höhe des Himalaya und der Anden. Seine
größten Hochebenen in Baiern und Spanien verdienen kaum der Er¬
wähnung im Vergleich zu denen in Tibet und Mexiko Und was sind
seine Halbinseln gegen Indien und Arabien, wovon jede fast ein hal¬
bes Europa an Größe ausmacht! — Seine Seen, sein Mittelmeer und
seine Meerbusen sind weit davon entfernt, mit dm großen Oceanflä-
chen, welche die asiatischen Halbinseln umspülen, in Vergleich gebracht
zu werden. Nirgends besitzt cs so große Flüsse, so gewaltige Ströme,
wie die, welche Asiens und Amerika's unermeßliche Landflächen reich
mit Wasser befruchten und beleben; nirgends solche Urwälder, welche
Regionen von mehr als Frankreichs Größe so dicht überdecken, daß es
dem Menschen unmöglich wird, sich einen Weg hindurch zu bahnen;
nirgends solche Wüsten, vor deren Unendlichkeit der Ausdehnung wir
zurückschaudern. Wir gewahren in Europa weder die üppige Frucht-
fülle der Tropen, noch die furchtbaren ewigen Frostspuren Sibiriens;
wir fühlen hier weder die überwältigende Hitze des Aeqnators, noch
das Grause der Kälte, welche alles organische Leben vernichtet. Europa
ist so das Bild der bescheidenen Mitte, der Mäßigkeit. Und dasselbe
Maßhalten finden wir auch eben so wieder in den Erzeugnissen der
organischen Natur. Die Pflanzen und Bäume erreichen in Europa nie
den kräftigen Wuchs, die riesige Höhe und Dicke, wie sic in der Tro-
penwelt überall unser Staunen erregen. Weder Blumen, noch Insek¬
ten, noch Vögel zeigen in Europa die unendliche Mannichfaltigkeit und
die feurig glänzende Farbenpracht, wie sie in den ätherischen Wogen
des Lichtmeers am Aeqnator ohne Unterlaß zum Vorschein kommen.
So sind die europäischen Verhältnisse auch in dieser Hinsicht mild und
gemäßigt.
Wie wollen wir nun aber alle diese bescheidene Kleinheit und Schwäche
Europa's in einen verständigen Zusammenhang bringen mit der Alles
überstrahlenden Glanzrolle, welche dasselbe unter allen anderen Erdtheilen
gespielt hat? — Sollte dieses merkwürdige Zusammentreffen der höchsten
geistigen Entwicklung des Europäers mit der ihn umgebenden, überall