8. Lessings Bildungsjahre.
Wilhelm Dilthey.
Lessing stammte aus einer alten sächsischen Pastorenfamilie, er wurde
zu Kamenz 1729 geboren, sein Vater war ein gelehrter orthodoxer
Geistlicher, das Hauswesen ehrenfest und tüchtig. Die treffliche Fürsten¬
schule zu Meißen machte schon, da er noch fast ein Knabe war, einen
die Alten selbständig durchmusternden, poetisch nachfühlenden Philologen
aus ihm. Als er nun in Leipzig nach Familienherkommen Theologie
studierte, kam er in die Schule von Ernesti, vor allem aber von Christ,
in welchem aus der Polyhistorie damals jugendfrisch die deutsche Alter¬
tumswissenschaft sich losrang. Er disputierte in der philosophischen Ge¬
sellschaft von Kästner. In jugendlicher Genossenschaft mit dem in der
Heimat übel beleumdeten Vetter Mylius, einem bedenklichen Literaten
und bedenklicheren Dramatiker, lernte er die Bühne vor und hinter
den Kulissen kennen, und von dieser Zeit war es sein Ehrgeiz, den
Deutschen ein dem Ausland ebenbürtiges Theater zu schaffen. Das
freudige Lebensgefühl dieser kecken wagemutigen Jahre hat er in
anakreontischen Liedern ausgesprochen. Seine gelehrten Studien breiteten
sich nach allen Seiten aus. Als er im zwanzigsten Jahre die Universität
verließ, standen die Erundzüge seiner starken Persönlichkeit schon deutlich
und fest da. Und so sicher fühlte er sich auch bereits seines Berufs,
daß er den regelmäßigen Weg zu einer festen Lebensstellung verließ,
Ende des Jahres 1748 sich nach Berlin begab und dort die Laufbahn
des Schriftstellers ergriff — ohne Geld, ohne Verbindungen, den Eltern
entfremdet.
Es ist der erbaulichste Anblick, inmitten der damaligen deutschen
Literatur diese Natur sich nun bewegen zu sehen. Schon die nächsten
norddeutschen kreise, in denen der Jüngling sich findet, die Gleim
und Ramler und die anderen Lyriker sind ihm doch völlig heterogen.
Er ist unter ihnen wie unter einer Singvogelbrut ein junger Raubvogel,
der, weil es im Nefte so der Brauch ist, seine Stimme zu kleinen Liedern
übt, sich aber dabei wenig behaglich fühlt und zuweilen die sonderbarsten
Gelüste verspürt, auf den einen oder anderen Sänger zuzufahren. Noch
schärfer tritt die totale Verschiedenheit seiner Natur hervor, wenn man
ihn in dem Ganzen der damaligen Bewegung ansieht. So wunderbar