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Großmutter spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Großmutter hat keinen Feiertag.
Sie kocht das Mahl, sie spinnet das Kleid;
das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;
wohl dem, der that, was er sollt'!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
Urahne spricht: „Morgen ist's Feiertag!
Am liebsten ich morgen sterben mag.
Ich kann nicht singen und scherzen mehr;
ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
was thu' ich noch auf der Welt?" —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
Sie hören's nicht, sie sehen's nicht;
es flammet die Stube wie lauter Licht.
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
vom Strahl mit einander getroffen sind.
Vier Leben endet ein Schlag: — ,
und morgen ist's Feiertag!
102. Boten göttlicher Vorsorge.
Die Blumen, Kräuter und alle Erdgewächse treten mit an¬
brechendem Frühling gleichsam aus ihrer Schlafkammer; sie haben
einen Nock angelegt und reden durch ihren lieblichen Geruch, ihre
unterschiedliche Gestalt und ihre bunte Farbe mit uns, sprechend
auf ihre stumme Sprache: „O, ihr ungläubigen Menschenkinder,
sehet uns an, Alle, die ihr Gottes Wort nicht glauben wollet!
Sehet uns, seine Werke, an! Wir waren todt und sind nun le¬
bendig geworden; wir haben unseren alten Leib in der Erde ver¬
wesen lassen und sind neue Geschöpfe geworden! So lernet nun
von uns den alten Menschen aus- und den neuen Menschen an¬
ziehen. Inzwischen aber ihr, hier auf Erden Wallende, sorget
nicht für euren Leib, sondern laßt euren Gott, der uns so herr¬
lich gezieret und alle Jahr mit neuem Schmucke ankleidet, heget,
nähret und mehret, auch für euch sorgen! Sehet, wir geben euch
alle unsere Kräfte, welche wir zu eurem Dienste empfangen haben;
alle Blättlein sind gleich den Zungen, welche Gottes Milde, Güte,
Allmacht und gnädige Vorsorge ausreden!" —
Ich höre diesen Feldpredigern zu; ich glaube ihren stummen
Worten und trete alle meine Sorge mit Füßen. So gehe ich
nun fröhlicher meinen Weg, weil ich der väterlichen Vorsorge
meines Gottes versichert bin, und verlange getrost zu sterben,
weil ich nicht zweifle, mein Leib werde verkläret auferstehen, und
das Verwesliche werde auch an mir anziehen das Unverwesliche.