Full text: Literaturgeschichtliches Lesebuch

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geiftes einzusetzen hatten. Mit Bewunderung sah Schiller nun erst im 
persönlichen Verkehr bei Goethe die unglaublich ausgebreitete Fülle der 
Erfahrung, die dem Leben und der Natur abgewonnenen Erkenntnisse, 
dies große Schauen, in dem die ganze lvelt des Wirklichen, rein aufgefaßt, 
als Gedanke noch einmal auszuleben schien. Dagegen brachte Schiller die 
Bestimmtheit der Grundgedanken für die verschiedenen Gebiete der mensch¬ 
lichen Betätigung. Zusammen wurden sie zum überwältigenden Beweise, 
wie die menschliche Forschung auch im Betriebe der entgegengesetzten Rich¬ 
tungen in sich einig ist. Goethe bemühte sich um die Wahrheit, indem 
er sich dem wirklichen und der Natur zuwandte, Schiller, indem er in die 
Tiefen des Geistes einging. Und bei diesem Gegensatz der Richtungen 
begegneten sie sich in dem gleichen Ergebnis. ■ So sind Wirklichkeits¬ 
erforschung und Philosophie tatsächlich untereinander eins, wenn sie beide 
in ihrer Tiefe begriffen und mit reinem Sinne gepflegt werden. 
Dem Gegensatz ihrer geistigen Richtung entsprach die verschiedene Nrt 
ihres Dichtertums. Zwar ist es Torheit zu sagen, daß Schiller nachträglich 
seine Gedanken in Dichtung und Personen umzusetzen und einzukleiden suche, 
während die Dichtung in Goethes Nnschauung von vornherein gestaltet 
emporsteige, wäre dem so, so wäre Schiller überhaupt kein Dichter ge¬ 
wesen. Uber verschieden ist ihre weise doch. Ruch ist es wahr, daß 
auf Goethes Seite die unmittelbare Empfänglichkeit größer erscheint und 
auf Schillers Seite die Selbsttätigkeit. Sn langen Jahren bilden sich die 
Goetheschen Dichtungen heran, der konzentrierte Nusdruck seines Lebens, 
ganz durchdrungen und erfüllt von den Leiden und Freuden seines Herzens. 
Nlles will abgewartet werden und braucht seine Zeit. Diese Gestalten 
müssen wie die der Natur langsam wachsen, bis sie ihres eigenen Lebens 
fähig werden, und so haben sie dann auch die ganze Fülle der Natur, 
hier ruht die Größe der dichterischen Unmittelbarkeit Goethes, die Natur¬ 
innigkeit und -einigkeit seiner Dichtung. Schillers Menschen atmen und 
leben in den großen Rümpfen der Freiheit. Die Nöte des von der Natur 
losgerissenen Menschen gestaltet er mit mächtiger Hand, die Ängste und 
Leiden der Seele, die die verlorene Einigkeit mit sich selber sucht, das 
große Schicksal des Lebens. Und mit der Energie des Herrschers ordnet er 
seine Menschen und Szenen in jenen Willenskämpfen, die sein Gebiet sind, 
wieder aber ergänzen sich die beiden Freunde so zur großen Nllseitigkeit 
auch im Reich der dichterischen Wirkungen, vom kleinen Lied über das 
umfassende Weltbild des Romans bis in das Reich der großen Tragödie 
hinein ist alles vorhanden. 
wie fruchtbar mußte die persönliche Wirkung aufeinander sein! war 
es doch, als ob die Hälften der Menschheit, ja der Welt sich zum Ganzen 
zusammenschlössen. Schiller wurde durch Goethe in ein neues Verhältnis 
gebracht zu den Dingen, zur Wirklichkeit. Goethe wurde durch Schiller,
	        
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