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zuführen, so heißt er Tiefsinn; und wenn er die nicht leicht zu bemerkenden
Ähnlichkeiten verschiedener Dinge schnell auffindet, so wird er Wiß genannt.
5. Unsere Seele hat aber auch das Vermögen, Gedanken hervorzubringen
und aufzunehmen, welche nicht zur Sinnenwelt gehören. Was recht und
unrecht, würdig und unwürdig, gut und böse, heilig und unheilig
ist, kurz, die Religion und alle ihre Wahrheiten und Forderungen gehören
nicht zur sinnlichen, „sondern zur übersinnlichen Welt. Das Ver¬
mögen der Seele, das Übersinnliche wahrzunehmen, nennt man Ver¬
nunft. — Vermöge seiner Vernunft ist der Mensch fähig, sich über die- Kör>
perwelt zu einer höhcrn, unsichtbaren, geistigen Welt, zu Gott zu erheben
und ihn als die erste und einzige Ursache aller erschaffenen Dinge zu
erkennen. — Verstand und Vernunft nennt man auch das Denkvermögen,
und zwar den Verstand das niedere, die Vernunft das höhere Denkvermögen.
Das Anschauungs- und Vorstellungsvermögen, das Gedächtniß,
der Verstand und die Vernunft bilden zusammen das Erkcnntnißvcrmögen
des Menschen.
6. Unsere Seele hat aber nicht bloß Kräfte zum Erkennen, sondern wir
werden auch in uns Bestrebungen oder Antriebe zum Handeln gewahr,
welche ihren Ursprung in unseren Gefühlen haben; die Bestrebungen der
Menschen sind aber verschiedener Art. Vermöge ihrer sinnlichen Natur streben
sie nach dem Angenehmen; sinnliches Wohlsein ist für den Sinn¬
lichen oder Fleischlichen das Ziel aller seiner Bestrebungen und Handlungen.
Die Sinnlichkeit aber hat der Mensch mit'den Thieren gemein. Der
Mensch ist fähig, auch das geistig Angenehme zu empsinden, ein Wohl¬
gefallen zu finden am Wahren und Schönen, an Regelmäßigkeit und
Ordnung, an dem, was groß, erhaben und gut ist, dagegen ein Mi߬
fallen an Allem, was ordnungslos und unregelmäßig, unedel und
geschmacklos, irrig und unwahr, niedrig, häßlich und böse ist, und
dieses bildet seine Sittlichkeit. Ruhm, Vortheil, Reichthum, Geiz,
Neid, Haß, Rache, Furcht, desgleichen Mitleid, Wohlwollen, Liebe,
Treue, Dankbarkeit, Frömmigkeit u. s. w. sind Triebfedern,
welche den Menschentum Handeln bestimmen können.
7. Es ist aber nicht einerlei, was uns zum Handeln antreibt, und was
für Handlungen wir ausüben. Gott pstanzte in unser Inneres das Gewissen,
welches uns zuruft, unsere Handlungen nach dem zu bestimmen, was wir als
gut und recht erkannt haben Es treibt uns an, immerfort an unserer sittlichen
Vervollkommnung zu arbeiten, unsern Willen immer mehr zu heiligen und
uns des Wohlgefallens Gottes stets würdiger zu machen. Die Stimme
des Gewissens fordert uns auf, für das Glück unserer Nebenmenschen zu
sorgen, gegen sie so zu handeln, wie wir wünschen, daß siegegen
uns handeln möchten, und ihnen das nicht zu thun, wovon wir
wünschen, daß es uns nicht geschehe. Wohl uns, wenn wir immer
der Stimme des Gewissens folgen; denn wir handeln alsdann stets nach dem
Gebote der Gottes- und Nächstenliebe und haben ein gutes Gewissen.
Das gute Gewissen erfüllt uns mit Ruhe und Zufriedenheit das böse
Gewissen aber mit Unruhe und Furcht.
8. Der Mensch hat einen freien Willen, d. h.: er kann, ohne von Nei¬
gung und Lust oder ohne von irgend einem äußern Zwange genöthigt
zu werden, ja selbst gegen Neigung und Lust und jeden Zwang, sich selbst
bestimmen, eine That zu wollen und zu vollbringen oder zu unterlassen.
Keine Macht kann ihn zum Bösen zwingen, wenn er nicht selbst sich dazu
entschließt. Ohne diesen freien Willen wäre der Mensch keiner Zurechnung, weder
einer sittlich guten, noch einer bösen That fähig. Nur der sittliche Mensch
bewahrt diese Gabe Gottes unversehrt, nur er ist wahrhaft frei; der bloß
sinnliche Mensch hat seine wahre Freiheit eingebüßt, er ist ein Sklave