Full text: Für die Oberklassen (Theil 2)

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schöpf dcr menschlichen Gesellschaft, als ein Mensch von dummen 
Reden, und kein erbärmlicheres Glied unter den menschlichen Gliedern, 
als eine vorlaufende, stolpernde, stotternde, grobe und unzeitig spitz- 
und feingeschliffene, dumme Zunge. 
Um zu dieser Nüchternheit im Reden deS Umganges und zu einem 
guten Style der Gesellschaft überhaupt zu kommen, hat man einige 
Regeln der Vorsicht nöthig: 1) Man falle niemandem in die Rede. 
Ein Mensch, der dem andern in die Rede fällt, ist ein Wahnsinniger, 
wie die Indianer sagen, oder wie andere sagen, ein seines Verstan¬ 
des nicht Mächtiger, dem niemand viel zutraut. Nach dem Buche Hiob 
war Elihu so voll von Weisheit, daß ihm der Bauch bersten wollte; 
er wartete aber doch, bis die Alten ausgeredet hatten, bis an's Ende. 
2) Man hüte sich vor gewohnten Eigenheiten und Lieblingsaus¬ 
drücken, wodurch man entweder lächerlich oder eintönig wird, weil 
man sie gewöhnlich zur Unzeit wiederholt. Fast niemand kann ihnen 
ganz entgehen; besonders haben sie Leute, die viel reden müssen 
und ohne Vorbereitung reden; doch aber hüte man sich vor ihnen 
und schränke sie, so viel als möglich, ein. Man bestelle sich Wächter, 
die uns solche sagen müssen, oder man sei sich selbst Wächter. Jedem 
von uns ist bekannt, an welche Albernheiten man sich gewöhnen 
kann, wenn man nicht auf sich merkt. 3) Man hüte sich vor aller 
Herrschsucht im Umgänge oder in seinen Gesprächen. Despoten im 
Umgänge sind die unerträglichsten Geschöpfe; sie brechen die muntere, 
liebliche Unterredung ab, halten sie auf, lensen sie seitwärts und 
prägen ihre Meinung mit Stolz als Siegel der Wahrheit auf. 
Sie kommen nicht zur Wahrheit und wollen andere nicht dazu lassen. 
Jeder junge Mensch prüfe sich abends, ob er heute eine Ungezogen¬ 
heit begangen, eine ungebührliche Rede geäußert, eine Unterhaltung 
verdorben, eine Antwort gegeben oder sonst ein Betragen gezeigt habe, 
mit dem andere und er selbst nicht zufrieden sein können. Zur 
Unfreundlichkeit ist unS die Rede nicht gegeben. Bei allem kommt 
es vorzüglich darauf an, daß unsere Rede ganz sei und etwas Gan¬ 
zes bestimntt sage. Das, was man sagen will, rein, ganz bestimmt und 
doch artig, höflich zu sagen und ein Ende in seiner Rede finden zu 
können, das ist der schöne Ausdruck der Gesellschaft und des Um- 
ganges. Er ist wie ein schöner Edelstein, ein Kind der Natur, aber 
durch Kunst gefaßt, voll Sinnes, voll Anmuth, voll inneren Wer¬ 
thes, klein und kostbar. Johann Gottfried von Herder. 
12. Lebens-Regeln. 
180. Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu 
halten, keine führt so sicher dahin, sich dauerhafte Achtung 
und Freundschaft zu erwerben, als die: unverbrüchlich,
	        
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