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Kraft gebe, über meine sinnlichen Begierden oder, wie eS
die Schrift nennt, mein Fleisch zu herrschen, und mich wie¬
der zu erneuern zu dem Ebenbilde DeS, der mich geschaffen
hak. Wenn ich an ihn glaube und von Herzen mich ihm
ergebe, so erlange ich den Vorzug wieder, der mich am
meisten auszeichnet vor allen Geschöpfen der Erde, und waS
an Vollkommenheit mir noch fehlt, das wird die Ewigkeit
einst zur Reife bringen.
Wenn ich nun noch einmal überdenke, wie wundcrbar-
lich ich gemacht bin, und wie hohe Gaben mein Gott in
meinem Leibe und meiner Seele mir verliehen hat, so muß
ich seine Weisheit, Güte und Gnade wohl recht anstaunen;
aber das thue ich noch mehr, wenn ich auch meinen Blick
auf meine Mitmenschen werfe und da sehe, wie Gott
mich mit diesen allen, und diese alle unter einander so wun-
derbarlich zu.vereinigen gewußt hat. Da bemerke ich nun
freilich zuerst, daß der Mensch, obgleich vaS vollkommenste
unter allen Geschöpfen bet; Erde, doch bei seiner Geburt
das hilfloseste unter allen ist. Wenn der Vogel auS dem
Ei gekrochen ist, so dauert eS gar nicht lange, so versucht
er schon seine kleinen Flügel, eilt seiner Nahrung nach, und
findet sie. Aber wie viele Monate, ja Jahre vergehen, ehe
daS neugeborne Kind ohne Beihilfe sich frei auf seinen Fü¬
ßen bewegen, und seinen Unterhalt sich selbst schaffen kann.
Die meisten Thiere finden ihre Nahrung und ihre Wohnung
von der Natur schon da zubereitet, wo sie daS Licht der
Welt erblicken; der Mensch muß die Speise, die er genießen
kann, daS Kleid, welches seinen nackten Leib bedecken, die
Wohnung, welche ihn gegen die Einflüsse der Witterung
schützen soll, an den meisten Orten der Erde mit vieler
Mühe sich erst schaffen und zurichten. Diese seine natürli¬
che Hilflosigkeit und Bedürftigkeit aber hat der liebe Gott
mit gutem Bedacht den Menschen zugetheilt. Sie ist es, die
nicht allein ihm ein mächtiger Antrieb zur Thätigkeit wird,
durch welche alle seine natürlichen Anlagen zu ihrer vollkom¬
menen Entwickelung kommen, sondern die auch einen Men¬
schen an den andern weiset, und so die große Verbindung
unter den Menschen stiftet, welche man die menschliche
Gesellschaft nennt.
DaS hilflose Kind ist mit seinen unzähligen Bedürf¬
nissen zunächst an seine Eltern gewiesen, und Gott hat in
die Herzen derselben jene uneigennützige aufopfernde Liebe
gelegt, welche ihm willig Alleö darreicht, waS es in diesem