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thurme herab auf die Erde fiele, so wäre wahrscheinlich, daß
er sich zerschmetterte, und Hals und Beine zerbräche. Aber
das Wahrscheinliche, ist deßwegen, weil es wahrscheinlich ist,
noch nicht wahr. In einer großen Stadt fiel einmal ein
Knabe von einem hohen Kirchthurme herab; aber weil er
einen Mantel um sich hatte, so hielt ihn der Wind so auf, daß
er ganz unversehrt zur Erde kam. 4 Dieß ist unwahrschein¬
lich, aber doch wahr, denn es ist wirklich so geschehen. Das
Unwahrscheinliche ist- also deßwegen, weil es unwahrschein¬
lich ist, noch nicht unwahr. Wer absichtlich eine Unwahrheit
sagt, der lügt. Daö sollen wir nicht.
Die Wahrheit rede stets
Und wag es nie zu lügen:
Es ist ein schändlich Ding
Den Nächsten zu betrügen.
13.
Ach habe zwei Augen, damit kann ich sehen. Ich sehe
das Buch, das ich halte, und die Worte, die ich lese. Ich
babe gesehen, daß die Sonne scheint, daß der Himmel blau
ist, daß die Milch, das Salz, der Schnee — schwarz ist? —
Nein, das ist nicht wahr.
Schwarz ist der Nuß, und weiß der Schnee,
Noth ist die Rose, grün der Klee.
Wie ist die Kohle? die Kreide? daö Blut? die Citrone?
Das Gras ist grün; was ist noch mehr grün? Die Blumen
haben verschiedene Farben; welche hat daS Veilchen? die
Rose? die Narcisse?
Wer nicht sehen kann, ist blind. Ein blinder Mensch
ist ein armer Mensch. Er weiß nicht, welche Gestalt die
Dinge in der Welt haben, noch weniger die Farbe derselben.
Von b" Gestalt kann er noch Etwas wissen; woher und wo¬
durch? Kunn man aber auch die Farben fühlen? Kann daher
der Blinde von der Farbe sprechen? Das, was man nicht
weiß, davon kann und soll man nicht sprechen; sonst spricht
man wie der Blinde von der Farbe.
Welche Farbe hat dein Buch? Wenn es eine andere
hatte, wäre es dann kein Buch? Ist also die Farbe bei
dem Buche wesentlich und nothwendig? Könnte aber