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J. Aus der Sage und Geschichte des
deutschen Volkes.
162. Gölter und Gollesdienst unsrer Vorfahren.
Wie bei allen heidnischen Völkern führten auch bei den alten Deutschen
die großartigen Erscheinungen der Natur auf die Götter und andre über—
menschliche Wesen als Lenker und Regierer der Welt hin. Voll Bewun—
derung und Ehrfurcht schauten sie empor zu dem allumfassenden Himmel,
der sich hoch über der Erde wölbt. Sie ahnten das Walten höherer Mächte
in dem leuchtenden Sonnenstrahl, dem sanften Glanze des Mondes und dem
vielfarbig schimmernden Regenbogen. Sie fühlten die Nähe des Göttlichen
in dem Säuseln wie in dem Sturmesgebrause der bewegten Luft; sie ahnten
es in dem Blitzstrahle, den der rollende Donner begleitet, wie in dem
befruchtenden Regen und der Kraft des Wachstums, welche den Baum nach
oben treibt und die Blume zur Entfaltung bringt. In Liebe und Dankbar—
keit wandten sich die Menschen den segnenden Göttern zu und standen in
Furcht und Bekümmernis vor den zürnenden.
Drei Götter waren es vor allen, welche das Los der Völker und
einzelnen Menschen bestimmten. Von ihnen ist der erste und vornehmste
Wodan oder Wuotan, bei den Nordgermanen Odin genannt. Er ist der
hohe Herr des Himmels, der auch die Luft mit seinem Hauche bewegt. Als
König und Oberster der Götter thront er in seiner himmlischen Wohnung
auf einem Hochsitze, von leuchtendem Golde gefertigt, von wo aus er durch
ein Fenster die Erde und die Wohnungen der Menschen überschaut. Wie er?
selbst die höchste Kraft und Schönheit ist, so verleiht er diese Gabe auch den
Menschen. In vollem Waffenschmucke, mit Helm, Schwert und Lanze be—
wehrt, so durchschneidet er auf seinem weißen Rosse die Lüfte und fliegt
über Wasser dahin. Seine Lieblinge unter den Menschen sind die mutigen
Krieger. Er stürmt durch die wogende Feldschlacht und erfüllt die Streitenden
mit Kampfesmut. Die gefallnen Helden läßt er durch die Schlachtenjung—
frauen, Walküren, zu sich nach Walhalla tragen, wo sie ein Leben voll
heitrer Genüsse erwartet. Wodan ist aber nicht bloß der Gott der höchsten
Stärke und Tapferkeit, sondern auch der tiefsten Weisheit. Ihm ist die
Zukunft nicht verborgen. Eins seiner Augen gab er dahin, um bei dem
Riesen Mimir aus dem Brunnen der Weisheit zu schöpfen, und tagtäglich
sendet der einäugige hohe Herr des Himmels zwei Raben aus, um die Welt
und das Treiben der Menschen zu erkunden. Sind sie zurückgekehrt, so