Full text: Lesebuch für hannoversche Volksschulen

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schwärmen: er lacht ihres Stachels, lädt sie sich auf den Pelz, wälzt 
sich am Boden, zerdrückt sie, frißt sie, und am Ende müssen sie ihm 
die süße Labe überlassen. Oder er schleicht zum Garten, wo aus dem 
Laube rothwangige Birnen und schwarze Kirschen locken, versucht im 
Weinberg die Traube, oder er lauert am Bach auf Fisch und Krebs. 
Aber die goldenen Tage sind bald vorüber. Die Felder stehen 
kahl, der Wald entlaubt; auch die letzten Wandervögel sind davon¬ 
gezogen; rauhe Stürme brausen über die Öde. Der Fuchs liegt 
in seiner Zelle; denn es gibt wenig zu jagen, und die gesammelten 
Vorräthe schützen ihn zunächst noch vor Mangel. Es ist eine triste, 
langweilige Zeit. Er macht Sprungübungen und horcht wachsam 
den Schüssen der Jagd, die dumpfwarnend in sein Lager hinunter¬ 
dröhnen. Indessen drängt der Winter immer ungestümer heran. 
Bald liegt alles erstarrt unter der weißen Decke; Seen und Bäche 
gefrieren tief hinab; die Bäume krachen, vom Frost zerspalten; das 
Wild ächzt hungrig in den dichtesten Gründen, und Nabe, Krähe 
und Sperling haben längst die Straßen der Städte und Dörfer 
gesucht. Reineke darf das nicht. Er streicht lungernd hinter einem 
Bauerngehöft umher. Aber es läßt sich keine Feder spüren. Die 
Noth treibt ihn dem Walde zu. Mit einem Mal hebt er die Nase. 
Seine Augen blitzen. Ein lieblicher Duft weht ihm entgegen. Ha, 
was ist das? — Siehe da — mitten in der Wildniß ein süßge¬ 
bratenes Stück Fleisch. Ohne Zögern ist es verschlungen. Reineke 
fühlt seine Lebensgeister neu erregt; seine Augen werden wacker, 
und wie von unsichtbaren Banden gezogen trabt er fürbaß. Und 
wahrlich! da liegt ein zweites Stück. Reineke steht still, Überraschung 
und Argwohn in den Zügen. Wer ist der unbekannte Spender? 
Er umschleicht auf scheue,: Sohlen die Stelle, steht wieder still, legt 
sich, horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf, um 
wieder niederzukauern. Nirgend ein Laut, nur die alten Föhren 
knarren; nirgend eine Spur, als die flüchtigen Zeichen, die des 
Windes Finger in den Schnee geschrieben. Er betrachtet den Bissen 
noch einmal: „Wär es eine Falle? — Die Menschenkinder sind voll 
Args! — Schon mancher Edle fiel durch ihre List! — Aber nein 
— hinweg mit solchen Gedanken!" und im Nu ist auch der zweite 
Brocken hinab. 
O Reineke! Reineke! du bist verloren: — denn dort liegt noch 
ein dritter Bissen. Stier blickt er hin auf die Lockung. Doch der¬ 
innere Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Und wieder um¬ 
kreist der Fuchs das leckere Mahl; wieder legt er sich, duckt die 
Ohren vorwärts, rückwärts, spitzt sie. Und wieder ist alles stumm; 
nur die Föhren knarren noch immer unverdrossen. Der Fuchs fängt 
an zu klügeln; aber je länger er hinschaut aus den Bissen, desto 
wirrer wird sein Blick. Es flimmert ihm vor den Augen; der Duft 
betäubt ihn; er kann nicht los, er muß — und gält es sein Leben — 
er muß hinzu. In einem wilden Satze springt er darauf los — da, 
krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne zusammen. 
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor
	        
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