Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

89 
muth des sanftmüthigen Friedrich, er werde von seinen harten Forde¬ 
rungen abstehen. Sollten aber Ew. Kurfürstliche Durchlaucht auf 
diesem Begehren beharren, so werden sie als rechtschaffene Unter¬ 
thanen eher ihr Leben lassen, als nur einen Augenblick wider die 
Pflicht handeln, welche sie gegen ihren Landesherrn haben. Ich 
für meine Person“, setzte der Bürgermeister hinzu, „will gern der 
erste sein, der hier auf der Stelle niederkniet, um mir meinen alten 
grauen Kopf abschlagen zu lassen.“ Da ritt der Kurfürst an ihn 
heran, klopfte ihm auf die Achsel und sprach: „Nicht Kopf ab, 
Alter, nicht Kopf ab! Solcher ehrlichen Leute, die ihren Eid und 
ihre Pflicht so treu erfüllen, bedürfen wir noch länger.“ Und da¬ 
mit stand er von seiner Forderung ab. 
147. Der kluge Richter. 
Daß nicht alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, davon 
haben wir längst schon gute Beweise. Auch folgende Begebenheit soll sich 
daselbst zugetragen haben. Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geld¬ 
summe, welche in ein Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. 
Er machte daher seinen Verlust bekannt und bot, wie man zu thun pflegt, 
dem ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von 100 Piastern, an. Da 
kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld habe 
ich gefunden. Dies wird's wohl sein. So nimm dein Eigenthum." So 
sprach er mit dem heitern Blicke eines ehrlichen Mannes und eines guten 
Gewissens, und das war schön! Der andere machte auch ein fröhliches 
Gesicht, aber nur, weil er sein verloren geglaubtes Geld wiederhatte. Denn 
wie es um seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte 
das Geld und dachte unterdessen geschwinde nach, wie er den treuen Finder 
um die versprochene Belohnung bringen könnte. „Guter Freund," sprach 
er hierauf, „cs waren eigentlich 800 Piaster in das Tuch eingenäht; ich 
finde aber nur 700 darin. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt 
und Eure 100 Piaster Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt 
Ihr wohl daran gethan : ich danke Euch." — Das war nicht schön! Aber 
wir sind auch noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht 
schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem es weniger nm die 
100 Piaster, als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu thun war, ver¬ 
sicherte, daß er das Päcklein so gefunden habe, wie er es bringe, und es so 
bringe, wie er es gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. 
Beide bestanden auch hier noch auf ihrer Behauptung: der eine, daß 
800 Piaster seien eingenäht gewesen, der andere, daß er von dem Ge¬ 
fundenen nichts genommen und das Päcklein nicht vepsehrt habe. Da 
war guter Rath theuer; aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des 
einen und die schlechte Gesinnung des andern schon voraus zu kennen 
schien, griff die Sache so an. Er ließ sich von beiden über das, was sie 
aussagten, eine feste, feierliche Versicherung geben und that hierauf folgen¬
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.