Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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Aber kaum hatte Siegfried zu essen angefangen, da erhub sich ein 
Getöse, als stürzten die Berge zusammen. Aengstlich fuhren die Zwerge 
.auseinander, sich zu verstecken, undKriemhild sprach: „Jetzt, edler Held, 
wird es unser Ende sein. Nun naht der Drache heran, von seinem Schnau¬ 
zen kommt das Getöse.“ Aber Siegfried blieb getrost und ermuthigte 
auch die Jungfrau. Da sah man einen hellen Feuerschein, der kam aus 
dem Rachen des noch meilenweit entfernten Ungeheuers. Aengstlich zog 
Kriemhild den Jüngling in eine Höhle herein, um hier das Weitere zu er¬ 
warten. Da erschien der Drache ; wie er an den Felsen heranflog, bebte 
die ganze Erde ringsumher. Sofort trat Siegfried aus der Höhle, mit der 
Rechten das Schwert führend, das ihm der Riese gezeigt hatte. Fürchter¬ 
liche Schläge versetzte er dem Drachen, aber dieser risz ihm mit seinen 
Krallen den Schild weg, und so fühlte er immer schrecklicher die Glut, die 
aus dem Rachen des Ungethüms hervorgehaucht ward; sie erhitzte den 
Felsen so, als wär’ er glühendes Eisen. Unerträglich ward endlich die 
Qual, immer gieriger züngelten rothe und blaue Flammen ihm entgegen. 
Endlich muszte er (liehen, doch vergasz er nicht Kriemhildens; schnell zog 
er sie mit in eine kleine Höhle hinein, in welche der Drache ihnen nicht 
folgen konnte. Hier erblickte er einen unendlichen Schatz von Gold und 
Edelgestein ; es war der Hort des unterirdischen Zwergenvolkes, der Nibe¬ 
lungen, welche vor dem Getöse des Kampfes ängstlich geflohen waren; 
Siegfried aber meinte, dasz es der Schatz des Drachen sei. 
Nach einiger Zeit, als er sich erholt hatte, ergriff er wieder sein 
Schwert und begann den Kampf von neuem. Die Glut der blauen und 
rothen Flammen, die das Unthier gegen ihn spie, brachte ihn wieder in 
grosze Noth; er muszte auf die Seite springen, aber nun versuchte das Un¬ 
geheuer mit seinem Schwänze ihn zu umringe,ln, und nur mit genauer Noth 
entging er diesen Umarmungen. 'Von den wiederholten Schlägen aber 
und von der gewaltigen Hitze begann allmählich die Hornhaut des Drachen 
weich zu werden; als Siegfried das merkte, nahm er alle seine Kraft zu¬ 
sammen und führte einen so gewaltigen Hieb auf das Thier, dasz er es 
von oben bis unten mitten hindurch spaltete und die eine Hälfte vom 
Rande des Felsens in die Tiefe sank. 
6. Wie Siegfried und Kriemhild heimkehrten. 
So war Kriemhild gerettet, und freudenvoll eilte sie auf ihren Befreier 
zu. Aber der war von der ungeheueren Anstrengung bis zum Tode er¬ 
schöpft ; ohnmächtig sank er [zusammen, und lange lag er bewusztlos da. 
Darüber erschrak Kriemhild so, dasz auch ihr die Sinne vergingen und 
sie wie eine Todte neben dem Helden lag. Endlich nach langer Zeit schlug 
Siegfried die Augen auf; als er aber die Jungfrau wie todtneben sichsah, 
brach er in laute Klagen aus upd rief: „0 weh mir, dasz ich dies erleben 
soll! Die ich in Freuden ihrem Vater wieder heimführen wollte, die musz 
ich nun todt ihm bringen? Des werd’ ich ewig klagen müssen.“ 
Das hörte der Zwerg Engel, der sich inzwischen, wie es stille auf dem 
Fels geworden war, wieder herangewagt hatte. Schnell kam er herbei 
und sagte: „Sei nur getrost! ich will der Jungfrau ein Kraut eingeben, 
dasz sie bald wieder gesund wird.“ So that er, und alsbald schlug sie die 
Augen wieder auf. Da fiel sie freudenvoll ihrem Retter Siegfried um den 
Hals und küszte ihn auf den Mund. Engel aber sprach: „Du hast uns 
Zwerge von dem bösen Riesen, dem wir dienen muszten, befreit; dafür 
wollen wir nun auch dir dienen und dir helfen, wo wir können.“ Darnach 
führte er Siegfried und Kriemhild in seine Wohnung, und hier erholten 
sie sich bei köstlichen Speisen und Getränken vollends von den über¬ 
standenen Mühen und Aengsten. Dann nahmen sie Abschied von dem 
Vaterländisches Lesebuch. i a
	        
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