Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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alle mit einander reif!" Da schüttelte es den Baum, daß die Aepfel 
sielen, als regneten sie, und schüttelte so lange, bis keiner mehr oben 
war; darnach ging es weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Hause, 
daraus guckte eine alte Frau; weil sie aber so große Zähne hatte, ward 
ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm 
nach: „Fürcht' dich nicht, liebes Kind! Bleib' bei mir; wenn du alle 
Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll dir's gut gehen; nur 
mußt du Acht geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aus¬ 
schüttelst, daß die Federn stiegen, dann schneit es auf der Welt; ich 
bin die Frau Holle!" Weil die Alte ihm so gut zusprach, willigte 
das Mädchen ein und begab sich in ihren Dienst. Es besorgte auch 
alles nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett immer ge¬ 
waltig auf; dafür hatte es auch ein gutes Leben bei ihr, kein böses 
Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. 
Nun war es eine Zeit lang bei der Frau Holle; da ward es trau¬ 
rig in seinem Herzen, und ob es hier gleich viel tausendmal besser war, 
als zu Hause, so hatte es doch ein Verlangen dahin. Endlich sagte es 
zu ihr: „Ich habe den Jammer nach Haus gekriegt, und wenn es mir 
hier auch noch so gut geht, so kann ich doch nicht länger bleiben." Die 
Frau Holle sagte: „Es gefällt mir, daß du wieder nach Haus verlangst, 
und weil du mir so treu gedient hast, so will icb dich selbst wieder 
hinauf bringen." Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es 
vor ein großes Thor. Das ward aufgethan, und als das Mädchen 
darunterstand, siel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb 
an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war. „Das 
sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist!" sprach die Frau Holle 
und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen 
war. Darauf ward das Thor verschlossen, und das Mädchen befand 
sich oben aus der Welt, nicht weit von seiner Mutter Hause; und als 
cs in denHof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief: „Kikeriki, 
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!" Da ging es hinein zu seiner 
Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es gut aus¬ 
genommen. 
Als die Mutter hörte, wie es zu dem Reichthum gekommen war, 
wollte sie der häßlichen und faulen Tochter dasselbe Glück verschaffen. 
Sie mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre 
Spule blutig ward, stach sie sich in die Finger und zerstieß sich die Hand 
an der Dornhecke. Darnach warf sie die Spule in den Brunnen und 
sprang selber hinein. Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese 
und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen ge¬ 
langte, schrie das Brot wieder: „Ach zieh mich 'raus, zieh mich 'raus, 
sonst verbrenn' ich, ich bin schon längst ausgebacken!" Die Faule 
antwortete: „Da hätt' ich Lust, mich schmutzig zu machen!" und ging 
fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttle mich, 
schüttle mich, wir Aepfel sind alle mit einander reif." Sie antwortete
	        
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