—
Richter der Welt am großen Gerichtstage auf deine Schultern legen wird?“ Der
Kalif war betroffen; er lobte die Herzhaftigkeit und Klugheit des Kadi und gab
der Wuwe das Erbe zurück mit allen Gebäuden, die er darauf hatte anlegen lassen.
26. Der Weinstock.
Johann Gottfried v. Herder.
Am Tage der Schöpfung rühmten die Bäume gegen einander, frohlockend
ein jeglicher über sich selbst. „Mich hat der Herr gepflanzt,“ so sprach die erhabene
Ceder; „Festigkeit ünd Wohlgeruch, Dauer und Stärke hat er in mir vereint.“
„Jehovahs Huld hat mich zum Segen gesetzt,“ so sprach der umschattende Palm⸗
baum; „Nuhen und Schönheit hat er in mir vermählet.“ Der Apfelbaum sprach:
„Wie ein Bräutigam unter den Jünglingen, prange ich unter den Bäumen des
Paradieses.“ Und die Myrte sprach: „Wie unter den Dornen die Rose, stehe ich
unter meinen Geschwistern, dem niedrigen Gesträuch.“ So rühmten alle, der Ol—
und Feigenbaum, selbst die Fichte und Tanne rühmten sich. —
Der einzige Weinstock schwieg und sank zu Boden. „Mir,“ sprach er zu
sich selbst, „scheint alles versagt zu sein, Stamm und Äste, Blüten und Frucht;
aber so, wie ich bin, will ich noch hoffen und warten.“ Er sank danieder, und
seine Zweige weinten.
Nicht lange wartete und weinte er, siehe, da trat die Gottheit der Erde,
der freundliche Mensch, zu ihm. Er sah ein schwaches Gewächs, ein Spiel der
Lüfte, das unter sich sank und Hilfe begehrte. Mitleidig richtete er's auf und
schlang den zarten Baum an seine Laube. Froher spielten anjetzt die Lüfte mit
seinen Reben; die Glut der Sonne durchdrang ihre harten, gruͤnenden Körner,
bereitend in ihnen den süßen Saft, den Trank für Götter und Menschen. Mit
reichen Trauben geschmückt neigte bald der Weinstock sich zu seinem Herrn nieder,
und dieser kostete seinen erquickenden Saft und nannte ihn seinen Freund. Die stolzen
Bäume beneideten jetzt die schwanke Ranke; denn viele von ihnen standen schon ent⸗
fruchtet da; er aber freute sich seiner schlanken Gestalt und seiner harrenden Hoffnung.
Darum erfreut sein Saft noch jetzt des Menschen Herz und hebt empor den
niedergesunkenen Mut und erquickt den Betrübten.
Verzage nicht, Verlassener, und harre duldend aus! Im unansehnlichen Rohre
quillt der sͤßeste Saft; die schwache Rebe gebiert Begeisterung und Entzückung.
N. Der rohe Edelstein.
Friedr. Adolf Krummacher.
Ein roher Edelstein lag im Sande zwischen vielen andern gemeinen Steinen.
Ein Knabe sammelte von diesen zu einem Spiel und brachte sie nach Hause zugleich
mit dem Edelstein; aber er kannte diesen nicht. Da sah der Vater des Knaben
dem Spiele zu, beimerkte den rohen Edelstein und sagte zu seinem Sohne „Gitb
mir diesen Stein!“ Solches that der Knabe und lächelte; denn er dachte: was
will der Vater mit dem Steine machen?
Dieser aber nahm und schliff den Stein künstlich in regelmäßige Flächen
und Ecken, und herrlich strählte nun der geschliffene Diamant.
„Siehe,“ sagte darauf der Vater, „hler ist der Stein, den du mir gabest.“
Da ersiaune der Knabe über des Gesteines Glanz und herrliches Funkeln und
rief aus: „Mein Vater, wie vermochtest du dieses?“
Der Vater sprach: „Ich kannte des rohen Steines Tugend und verborgene
Kräfte, deshalb befreit' ich ihn von der verhüllenden Schlacke. Jetzt strahlt er
in seinem natürlichen Glanze.“
Danach, als der Knabe ein Jüngling geworden war, gab ihm der Vater
den veredellien Stein als ein Sinnbild von des Lebens Wert und Würde.