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23. Der Wolf und der Schäfer.
Ein Schäfer hatte durch eine grausame Seuche seine ganze
Herde verloren. Das erfuhr der Wolf und kam, ihm sein Beileid
abzustatten. „Schäfer," sprach er, „ist es wahr, daß dich ein so
grausames Unglück betroffen hat? Du bist um deine ganze Herde
gekommen? Die liebe, fette Herde! Du dauerst mich, und ich
möchte blutige Thränen weinen." — „Habe Dank, Meister Jse-
grimm!" versetzte der Schäfer: „Ich sehe, du hast ein sehr mit¬
leidiges Herz." — „Das hat er auch wirklich," setzte des SchäferS
Phylax hinzu, „so oft er unter dem Unglücke seines Nächsten mit
leidet." ^
* 24. Der Wiedergeueferre.
Ein reicher Jüngling zu Rom hatte lange krank gelegen an
einem schweren Uebel; endlich genas er und gewann wieder neue
Kräfte. Als er nun zum ersten Male hinausging in Gottes schöne
Natur und sich in der reinen, milden Frühlingsluft wie neu gebo¬
ren fühlte, da wandte er sein Antlitz zum Himmel und sprach: „O
Du großer Gott, könnte ein Mensch Dir etwas vergelten, wie gern
wollte ich Dir alle meine Habe geben!"
Solches hörte Hermas, genannt der Hirte, und sprach zu dem
reichen Jüngling: „Von oben kommt die gute Gabe; dahin kannst
du nichts senden. Komm, folge mir!" Der Jüngling folgte dem
frommen Greise, und sie kamen in eine dunkle Hütte, daselbst war
Jammer und Elend; denn der Vater war krank, und die Mutter
weinte; die Kinder aber waren nackt und schrieen nach Brod. Da
erschrak der Jüngling. Hermas aber sprach: „Siehe hier einen Al¬
tar für dein Opfer! Siehe hier des Herrn Bruder und Stellver¬
treter!" Da that der reiche Jüngling seine Hand über sie auf und
gab ihnen reichlich und pflegte den Kranken. Und die erquickten
Armen segneten ihn und nannten ihn einen Engel Gottes. Her¬
mas aber lächelte und sprach: „So wende du immer dein dankba¬
res Antlitz erst gegen Himmel und dann zur Erde."
2F. Der Bär.
In einem dichten Walde hielt sich ein ungeheuer großer Bär
auf. Hubert und Eustach, zwei Jägerbursche, hörten davon und
sagten: „Den wollen wir bald haben!"
Sie gingen nun alle Tage fleißig in den Wald, nachher, wie¬
wohl sie kein Geld hatten, in das Wirthshaus und ließen sich's
recht wohl sein. „Der Bär", sagten sie zum Wirthe, „wird die
Zeche mit seiner Haut schon bezahlen."
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