Full text: Lesebuch für obere Classen in katholischen Elementarschulen

45 
Schweiß von der Stirn, und jeder Athemzug schien sein letzter zu 
sein. Auf einmal kehrten seine Lebensgeister zurück. Es war, als 
erwachte er vom Tode. Er winkte mit der Hand, und Alle bogen 
sich über das Bett, um die letzten Worte des Sterbenden zu hören. 
Kinder! sprach er mit gebrochener Stimme, die Hand, die mir 
den Todesschweiß von der Stirn wischt, hat mir und euch viel 
Gutes erwiesen. Vergeßt nicht: des Vaters Segen baut den Kin¬ 
dern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder. Verdient ih¬ 
ren Segen, wie den meinigen. (Er zieht die Hand der weinenden 
Alten an seine blassen Lippen.) Tausend Dank! — Lebe wohl bis 
aufs Wiedersehen, du treue Gefährtin meines Lebens! 
Kinder! ihr seid arm, wie euer Vater war; aber Gott bat 
mich nicht verlassen, Er wird auch euch nicht verlassen, wenn ihr 
Ihn nicht verlaßt. Weinet nicht so sehr um mich; denn ich habe 
die tröstende Zuversicht, daß ich hinauffahre zu meinem Vater und 
zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Ich sterbe 
und Gott wird mit euch sein. 
(Nach einer Pause von einigen Minuten:) Es wird mir leich¬ 
ter um das Herz. Gott gibt mir noch ein paar heitere Augenblicke. 
Vergebt mir, Kinder, wenn ich sie zu Ermahnungen anwende, die 
euch vielleicht wehe thun. 
Heinrich, du bist ein guter Mensch, aber du bist jähzor¬ 
nig, und des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist. 
Denke, so oft dich der Zorn überwältigen will, an die letzten Worte 
deines Vaters! 
Christian! auch du bist gut und nicht jähzornig; aber du bist 
leichtsinnig. Der Leichtsinn thut oft mehr Böses, als der Jäh¬ 
zorn. Denk' an die ernste Stunde, die jetzt deinem Vater schlägt, 
so oft der Leichtsinn dich anwandelt. 
Marie! Herzenstochter! auch von dir kann ich nicht ohne Er¬ 
mahnung scheiden. Du bist weder jähzornig noch leichtsinnig, aber 
unzufrieden mit deinem Schicksale. Das macht dich nei¬ 
disch gegen deine Mitmenschen, undankbar gegen Gott und un¬ 
glücklich in dir selbst. Bedenke doch: Mancher ist arm bei großem 
Gut, und Mancher ist reich bei seiner Armuth.' 
Die Kinder weinten laut auf und gelobten dem Vater, seiner 
letzten Ermahnungen eingedenk zu sein. Stillschweigend reichte er 
noch Jedem die Hand; er wollte noch einmal reden; aber die 
Zunge versagte ihm den Dienst. 
Seine letzten Worte schwebten seinen Kindern bei jeder Versu¬ 
chung zu ihren Lieblingsfehlern vor; sie ehrten und verpflegten ihre
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.