Full text: Neuer christlicher Kinderfreund

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Die Lang öhrin, als sie nun ganz herrenlos geworden 
war, senkte zwar ihr sorgenschweres Haupt noch etwas 
tiefer, wich aber keinen Schritt von der Stelle, so viel auch 
der Unbilden waren, die sie auf dem schmalen Hochpflaster, 
wo sie stand, zu erfahren hatte. Die Hiebe, die ihr die 
Spaziergänger, unwillig darüber, daß sie ihr ausweichen 
mußten, im Vorübergehen verabreichten, nahm sie ruhig . 
hin und sprach nur bei sich selbst: „Der William klopft 
mir ohnedies das Jahr über meinen grauen Rock zu wenig 
aus." Aber eine Magd aus der Nachbarschaft, die sie über 
das Hochpflaster hinunterschieben wollte, kleminte sie an das 
Haus, daß dieselbe schrie und froh war, als sie zwischen 
der Wand und dem Rücken des Lastthiers wieder hervor- 
durfte. Und mit den zwei kleinen Schornsteinkehrern, die 
sie bei den Ohren nahmen und fortziehen wollten, wurde 
sie auch schneller fertig, denn es ihre Widersacher gedachten. 
Sie schüttelte ein Wenig mit dem Kopse, und die zwei 
Jungen fielen rechts und links von ihr ab, wie ein Apfel¬ 
baum seine Aepfel abwirft, wenn er vom großen Winde 
bewegt wird. — Endlich nach einer Stunde oder darüber 
kam William aus dem großen Hause mit den hohen Fen¬ 
stern wieder zurück, und sagte zu seiner Eselin, indem er 
sich mit ihr vollends aus der Stadt hinauszog, wohl auch 
dazwischen stehen blieb: „Gelt, Jenny, ich bin dir zu lange 
ausgeblieben? Aber es hat nicht anders sein können. Ein 
Mann in dem großen Hause, der weit über das Meer 
hergekommen ist, erzählte von den Heiden. Er hat eS mit 
eigenen Augen gesehen, wie die bösen Mütter ihre Kinder 
in die Erde vergraben, oder im Feuer verbrennen, oder im 
Wasser ersäufen, oder den Crocodillen vorwerfen, welche sie 
mitten entzwei beißen und verschlucken, wie unsere Schwarze 
daheim eine Maus. In großen Städten, sagte er, sieht 
man allenthalben winselnde Kinder liegen, die man vor die 
Häuser herausgeworfen hat, wie bei uns junge Katzen, die 
man nicht aufziehen will. Und den alten Leuten geht eS 
nicht besser. Wenn sie schwach werden und keinen Taug 
mehr geben, nimmt sie der Sohn und gibt ihnen einen 
Schlag vor den Kopf oder scharrt sie bei lebendigem Leibe 
ein. Aber die Stechmücken und Flöhe und anderes Unge¬ 
ziefer tasten sie nicht an, damit sie den Vater derselben, den 
Teufel, nicht beleidigen. Denn den lieben Gott kennen sie 
nicht, so fürchten sie den Bösen über Alles und beten ihn an."
	        
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