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niedriges Gehölz, und kommen nur vorsichtig heraus, um auf dem Felde
zu grasen. Sumpfige Gegenden gefallen ihnen so wenig, als stelle Berge,
heiße Länder so wenig, als ganz kalte. Deßhalb findet sich das Reh
auch vorzugsweise in Deutschland, und seine List und Schnelligkeit haben
es bisher vor Ausrottung bewahrt. Doch schießen ordentliche Jäger auch
nicht leicht eine Rehgeis, besonders nicht zu der Zeit, wo sie Junge
hat, sondern nur Böcke oder junge Thiere. In manchen Gegenden
aber locken die Wilddiebe durch Locktöne alle Arten von Rehen an sich
und schießen sie ohne Unterschied nieder. Die Bauern sind darüber frei¬
lich nicht sehr verdrießlich, weil die Rehe Klee, Rüben u. dgl. von den
Äckern fressen, auch wohl Obstbäumchen verderben. Auch in den Wäl¬
dern, besonders an jungen Lärchen thun sie Schaden. Allein es wäre
doch auch traurig, wenn man alle Thiere, welche einmal mit dem Men¬
schen eine Mahlzeit halten wollen, sogleich vertilgen wollte! Die Welt
ist ja nicht blos um unsertwillen geschaffen worden. Was aber die Rehe
betrifft, so gewähren sie auch wieder Bortheil durch ihr äußerst zartes
Fleisch, durch ihre Haut, woraus Handschuhe und durch ihr behaartes
Fell, woraus Fußteppiche verfertigt werden! Auch das Gehörn wird zu
Mefferstielen, Pseifenröhren u. dgl. verarbeitet. Der Schaden, welchen die
Rehe thun, ist auch dadurch weniger beträchtlich, weil sic nur familien¬
weise beisammen leben, nicht in Nudeln, wie die Hirsche. Der Bock
nimmt sich nämlich, gegen die Gewohnheit anderer Wiederkäuer, seiner
2 Jungen an, und ist beim Austreten aus dem Walde der vorderste,
beim Flüchten der hinderste; auch die mütterliche Zärtlichkeit der Geis
ist musterhaft. Durch dieses Leben in Familien werden auch die Kämpfe
unter den Männchen vermieden, wenn jedoch die Jungen 8 bis 9 Mo¬
nate alt sind, so treibt sie der Vater von sich, damit sie ihren eigenen
Haushalt anfangen. Das Alter der Rehe schätzt man auf 16 Jahre.
21. Die Gemse.
Die Gemse ist die einzige in Europa einheimische Antilopenart, von
der Größe und auch beinahe von der Gestalt einer Ziege und der brau¬
nen Farbe eines jungen Rehs. Man würde weniger von ihr reden,
wenn sie nicht der Gegenstand der leidenschaftlichsten Jagd der Schweizer
und Tyroler wäre. Denn sie ist ein harmloses Thier, welches die Ge¬
sellschaft der Menschen meidet, weder Schaden noch großen Nutzen bringt.
Die Gemsen leben in den höchsten Gebirgen von Europa und Asien,
auf den Alpen, Pyrenäen, dem Kaukasus u. s. w. Sie nähren sich von
Alpenkräutern und den jungen Trieben der Erlen, Weiden nnd Nadel¬
holzbäume. Sie halten sich in Rudeln beisammen, sind äußerst wach¬
sam, sehen sich beständig um, und fliehen, wenn sie einen Feind wahr¬
nehmen in ungeheuren Sätzen mit der größten Schnelligkeit davon. Sie
stellen Wachen aus, welche die anderen bei Annäherung der Gefahr durch
einen pfeifenden Ton warnen. Ihre Feinde sind besonders der Mensch,
und ein großer Raubvogel, der Lämmergeier. Dieser letztere sucht sie
mit den Flügeln von den Felsenwänden in den Abgrund zu stürzen. Ihre
Jagd ist für Menschen mit großen Gefahren verbunden, und die meisten
Gemsenjäger büßen ihre Lust endlich mit dem Tode, indem sie in Ab¬
gründe stürzen, von Lawinen begraben werden, oder sich so versteigen,
daß sie weder vor- noch rückwärts können.