Full text: Lehr- und Lesebuch oder die Vaterlands- und Weltkunde

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an die Ruthen an, bewegt den Kopf hin und her und bringt so zwei sehr dünne 
Fäden aus den Öffnungen heraus, die sie geschickt mit den beiden Vorderfüßen 
zu einem Faden zu verbinden weiß. Zuerst spinnt sie ein weitläufiges, verworrenes 
und durchsichtiges Gewebe, aus welchem die Floretseide kardätscht wird. Den 
zweiten Tag zieht sie die Fäden um sich herum und bildet den eigentlichen Kokon 
(spr. Kokongh, d. h. Seidenhäuschen), in dessen Mitte sie sich befindet. Ein sol¬ 
cher Kokon, der ziemlich die Größe und Gestalt eines kleinen Taubeneies hat, 
besteht aus einem einzigen Doppelfaden, der 900 — 1200 Fuß lang ist. Dies 
ist nun unsere Seide, die man nicht erst zu spinnen braucht, wie den Flachs 
oder die Baumwolle, denn das hat ja die Raupe schon gethan. Man darf nur 
10 —12 Kokons mit einander abhaspeln und sie zwirnen. Läßt man aber der 
Puppe, die sich im Innern befindet, Zeit, sich in einen Schmetterling zu ver¬ 
wandeln (wozu sie 14 — 20 Tage gebraucht), so durchbricht der Schmetterling 
seine Hülle, und der durchlöcherte Kokon kann dann nicht mehr abgewunden und 
benutzt werden. Um diesen Schaden zu verhüten, schiebt man die Kokons in 
einen mäßig heißen Backofen, wo die Puppen ersticken, oder man wirft sie in 
siedendes Wasser. 
Das Vaterland der Seidenraupen ist China und Ostindien. Dort leben sie 
auch wild auf den Maulbeerbäumen, die ganz mit Kokons behängen sind. Im 
I. 551 n. Chr. brachten zwei Mönche den Seidenspinner mit nach Europa, 
indem sie die Eier desselben in ihren hohlen Stöcken aufbewahrten. Gegenwärtig 
breitet sich selbst in Deutschland der Seidenbau immer mehr aus. Allein bei uns 
kann er nur in Zimmern betrieben werden und erfordert große Mühe und Sorgfalt. 
27. Der Thee. 
In China wächst ein kleiner Strauch, ähnlich der Myrthe, — der Theestrauch. 
Bis Ende des sechszehnten Jahrhunderts kannte man ihn in Europa nicht und 
der erste Schriftsteller, der ihn erwähnt, ein Italiener, erzählt noch: „Die Chinesen 
haben ein Kraut, aus welchem sie einen zarten Saft drücken, welchen sie statt des 
Weines trinken; auch bewahrt er ihre Gesundheit und schützt sie gegen olle die 
Übel, welche der unmäßige Genuß des Weins unter uns hervorbringt." Was 
würden die klugen Chinesen gelacht haben, wenn sie das gelesen oder wenn sie 
gar dabei gewesen wären, wie man den ersten Thee, den man nach Europa brachte, 
als grünes Gemüse mit Butter und Salz zum Fleische kochte, und sie dabei die 
sauren Gesichter hätten sehen können, die sämmtliche Tischgäste des vornehmen 
Herrn zogen, der das ausländische kostbare Gericht als Delikatesse vorgesetzt 
hatte, ohne die Theebereitung zu verstehen I 
Seitdem haben die getrockneten Blätter des chinesischen Strauches mit reißender 
Schnelligkeit über die ganze Erde sich verbreitet. Wie Chinesen und Japane¬ 
sen, vom Kaiser bis zum Bauer, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht 
seit undenklichen Zeiten ihren Thee (aber stets ohne Milch und Zucker) tranken 
und trinken und gekochten Thee selbst auf den Märkten feilbieten, so ist in der 
ganzen civilisirten Welt der Thee ein Lieblingsgetränk, wenigstens der höheren 
Stände, geworden. Engländer und Amerikaner wetteifern mit einander, wer den 
meisten Thee verbrauche, und England nimmt jetzt jährlich an sechs und dreißig 
Millionen Pfund Thee auf sich. Für ganz Europa kann der Verbrauch ungefähr 
auf 60 Millionen Pfund geschätzt werden. In allen Familien dampft traulich 
auf den Tischen die Theekanne und ersetzt in den zahllosen Mäßigkeitsvereinen die 
Stelle der geistigen Getränke. Man genießt ihn stark gekocht zu festen Speisen 
und thut sich etwas zu Gute darauf, daß niemand in der Welt den Thee so gut 
zu bereiten verstehe, als die blonden Söhne und Töchter Albions. Mit deut 
Flieder- und Krausemünzc-Thee, diesen medizinischen Hausmitteln unserer deutschen 
Heimath, macht man freilich weniger Umständel 
Es ist mit dem Theestrauche wie mit dem Weinstocke; man kann ihn wohl 
in andere Himmelsstriche verpflanzen, selbst in Frankreich gedeiht er im Freien; 
nirgends aber erlangt er die heimathliche Gewürzhaftigkeit, und so wird die Welt 
wohl den klugen Chinesen tributpflichtig bleiben. Es gehört aber auch chinesische
	        
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