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verbreitete, daß irgendwo eine Kuh ein männliches Kalb von dieser
Zeichnung geworfen habe, war das Land voll von Jubel, und Alle
legten ihre schönsten Kleider an. Man brachte das Kalb, nachdem
es vier Monate alt worden war, auf einem kostbar verzierten Schiffe
nach der Hauptstadt Memphis, woselbst es einen Tempel und um
denselben schöne Gärten mit frischem Brunnenwasser fand. Der
Mann, von dessen Heerde der Apis kam, wurde für den glücklichsten
unter den Sterblichen angesehn und von dem ganzen Volke mit Be¬
wunderung betrachtet.
Zwar fehlte es der Religion der Egypter nicht an Keimen der
Wahrheit, wie sie z. B. an eine Fortdauer des Menschen nach dem
Tode glaubten, und der Verehrung der Thierwelt mag ursprünglich eine
sinnliche Beobachtung der Thiere und des Nutzens oder Schadens, wel¬
chen sie den Menschen brachten, zu Grunde gelegen haben. Aber der
allmählich daraus entstandene Thierdienst zeigt deutlich, daß eine solche
Religion ihre Bekenner weder weiser noch besser gemacht, sondern
vielmehr den Geist des Volkes in finsterem Aberglauben gefangen ge¬
halten habe. Sie glaubten, ihren Göttern nicht durch Heiligkeit der
Gesinnung und des Lebens, sondern nur durch Opfer und äußerliche
Gebräuche beim Gottesdienst gefallen zu müssen; ja es gab gottes¬
dienstliche Gebräuche, bei denen sogar unsittliche Geberden und Hand¬
lungen in der Meinung verübt wurden, daß man damit seine Ehr¬
furcht für die Gottheit beweise.
Wenn das Land durch das Uebermaß der Hitze dürre lag, oder
wenn die Pest oder sonst ein allgemeines Uebel das Land heimsuchte, so
führten die Priester etliche der Thiere, in denen sie ihre Götter verehr¬
ten, an einen abgesonderten Ort, woselbst sie ihnen zuerst die Noth
des Landes vorstellten, Abhülfe verlangten und sie ernstlich.bedrohe-
ten, wofern diese nicht erfolgen würde. Wenn dann nach einiger
Zeit keine Aenderung zum Besseren eintrat, so tödteten die Priester
dieselben Thiere, welche sie zu ihren Göttern gemacht hatten. — Wie
hoch stand doch nicht das Volk Israel über dem vielgepriesenen Egyp-
tervolk durch seine Erkenntniß des wahren Gottes! Und dennoch
konnte es sich immer wieder von diesem seinem Gott, dem Schöpfer
und Herrn Himmels und der Erde, abwenden und den läppischen Stier¬
dienst in Aufrichtung goldener Kälber nachäffen! — (2 Most 32.
1 Kön. 12, 28 ff.) „Mich, die lebendige Quelle", so muß der Herr
(Jer. 2, 13.) klagen, „verlassen sie, und machen ihnen hie und da aus¬
gehauene Brunnen, die doch löchricht sind und kein Wasser geben!" —