Full text: Lesebuch für Mittelklassen

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der HKranken ein Glas ein; dann schnitt er Brot ab und gab es den 
Kindern zu essen. Darauf kam ein Arzt, welchen ein Diener des 
Kronprinzen gerufen hatte. Der Kronprinz legte unbemerkt eine große 
Summe Gelbes auf den Tisch und entfernte sich. Als der Arzt 
fertig war, sagte er der Kranken, daß er nun alle Tage kommen 
werde, und daß er auch den Auftrag habe, den Apotheker zu bezahlen. 
„Wer war der Fremde?“ fragte jeßzt die kranke Frau. „Das war 
der Kronprinz von Preußen!“ antwortete der Arzt. Da saltete die 
Kranke die Hände zum Dankgebet. Was sie dem lieben Gott ans 
Herz gelegt haben mag, wissen wir nicht, doch ahnen wir es 
Trog. 
181. Kindesliebe. 
Ein 18jähriger Mensch, dessen Eltern arme Tagelöhner waren, 
diente bei einen Bauern. Eines Nachmittags saß er auf seinem 
Pfluge umd ließ seine Ochsen, die von der Arbeit müde geworden 
waren und sich niedergelegt hatten ein wenig ausruhen. Da ging 
ein Bauer aus dem benachbarten Dorfe vorbei und sagte „Weißt du 
Sschon, daß deinen Eltern in der vergangenen Nacht die Kuh ge— 
fallen ist?“ Der Knecht sprang erschrocken von seinem Pfluge auf, 
und seine Augen standen voll Wasser. Aber er wußte auch sogleich, 
was er thun wollte. Als er heimgekommen war und seinen Ochsen 
ihr Futter vorgeworfen hatte, ging er zu seinem Herrn in die Stube 
und sagte: „Gebt mir eine von Euern Kühen. Geld habe ich nicht; 
aber ich will Euch ein ganzes Jahr dafür dienen.“ Der Bauer nahm 
den Vorschlag an; und der wackere Sohn führte noch in derselben 
Nacht die Kuh in aller Stille in den Stall seiner Eltern ohne 
ihnen etwas zu sagen. Aber seine Mutter die am andern Morgen 
in den Sall' fam, exriet sogleich, wer die Kuh gebracht hatte, und 
trocknete mit der Schürze mehr als eine Freudenthrüne. 
Fr. Hofmann. 
182. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren! 
Eine arme Baueèrnwitwe hatte ihren Sohn mit Spinnen ernährt 
und ihm, als er auf der Schule war, die Speisen über Feld zuge— 
tragen Dieser Sohn kam in der Welt sehr hoch hinauf. Einst gab 
er ein großes Gastmahl. Als die Gäste sich versammelten, wurden 
sie zweier Dinge gewahr, über welche sie sich sehr wunderten. Unter 
einem prächtigen Spiegel hing ein ganz geringer Knotenstock. Sodann 
stand ganz oben an der Tafel ein alter, schlichter Stuhl mit hoher 
Lehne und neuem Überzuge. Man fragte den Herrn des Hauses, 
was das bedenten Er antwortete: „Ich hatte nichts als diesen Stab, 
als ich aus mener Muller Hause ging. Der Stuhl aber ist meiner 
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