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Anders verhält es sich mit den Verstandesübungen, auch wohl unmit¬
telbare Denkübungen genannt. Sie haben mit dem sinnlichen Vorstellungs¬
vermögen des Schülers wenig zu schaffen; sie lehren ihn urtheilen, schließen,
Begriffe bilden, erfassen und zusammenfassen; sie sind nur mit Kindern im
vorgerücktern Alter anzustellen.
Gleichwohl darf nicht gefolgert werden, daß der Anschauungsunterricht
den Verstand nicht in Anspruch nehme. Sowie das Kind eine Anschauung
gewinnt, urtheilt es auch schon, ob ein Wort und welches Wort aus seinem
Wortschätze derselben entspricht; umgekehrt muß es oft zu einein Worte die
Vorstellung sich vergegenwärtigen. Gleicherweise muß im Anschauungsunter¬
richte oft entschieden werden, in welchem Zusammenhange zwei Erscheinungen
stehen, ob sie Aehnlichkeitcn haben, ob sie iin ursächlichen Verhältniß stehen
u. s. w. Es sind dies zwar nur Anfänge der Verstandesübungen, aber es sind
doch Verstandesübungen. Liegen die Ansänge derselben im Anschauungsunter¬
richte, so ist es natürgemäß, sie auch später mit demselben in Verbindung
zu setzen.
Vorzugsweise hat es der Anschauungsunterricht mit der Bildung des
Anschauungsvermögens zu thun, welches unter den Seelenvermögen am
ersten erwacht und einer Ausbildung fähig ist. Diesem Zwecke verdankt er
eben seinen Namen, der allerdings von der sonst üblichen, objectiven Benen¬
nungsweise der Unterrichtsgegcustände abweicht.
Er erreicht diesen nächsten Zweck dadurch, daß er Einzelnes vorführt
und in der Weise betrachten läßt, daß ein Bild des Einzelnen, eine Vor¬
stellung, in der Seele zurückbleibt. Dies wird freilich nur dann geschehen,
wenn die Betrachtung genau und ausführlich ist, sich also nicht bloß auf das
Oberflächliche erstreckt. Insofern das vorgeführte Einzelne ein sinnlicher Ge¬
genstand, z. B. ein Thier oder eine Pflanze sein kann, oder ein geistiger
Vorgang, z. B. eine lebhafte Freude oder eine schmerzliche Empfindung,
spricht man wohl von sinnlichen und geistigen Anschauungen. Beide
gehören in das Gebiet des Anschauungsunterrichts. Derselbe lehrt nicht bloß
das äußere Leben und die äußere Welt kennen, sondern macht auch die
Kinder mit der Welt in ihnen, mit den-Vorgängen in ihrer Seele bekannt.
Nicht immer führt der Anschauungsunterricht die Gegenstände oder Er¬
scheinungen der Anschauung wirklich vor die Sinne; oft erneuert er nur die
schon früher gewonnenen Vorstellungen, um sie mit eben erzeugten in Ver¬
bindung zu setzen; oft nöthigt er die Schüler, das Abwesende, aber oft von
ihnen Gesehene sich im Geiste vorzustellen und sich darüber auszusprechen.
Da ist dann nicht bloß das Anschauungsvermögen, sondern vorzugsweije die
Einbildungskraft thätig. Aehnliches findet Statt, wenn die Schüler ver¬
anlaßt werden, sich ihre Gefühle und ihre Stimmung, die sie zu einer ge¬
wissen Zeit hatten, wieder zu vergegenwärtigen. Zieht man noch in Betracht,
daß, wie bei allem Unterricht, so auch beim Anschauungsunterricht das Ge¬
dächtniß der Kinder geübt und diese Uebung durch das Memoriren kleiner
Verse und Lieder noch gesteigert wird, so ist die formelle oder kraft¬
bildende Seite dieses Unterrichts genau genug gezeichnet. Er hat aber noch
einen andern Zweck, den man sich wohl hüten muß aus den Augen zu ver¬
lieren, den materiellen oder, wie man wohl sagen könnte, den mit Kennt¬
nissen bereichernden. Das Leben ist kurz und die Kunst lang; die Schulzeit
ist noch viel kürzer. Ihr schnelles Verstreichen, angesichts des großen Ge¬
bietes, daß er mit den Schüleen zu durchwandern hat, mahnt den Lehrer
dringend, sorgfältig in der Auswahl des Stoffes zu verfahren, nicht die Zeit