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an ihre Thür, sie geht heraus zu ihnen; sie muß wissen, wer sie sind,
wo sie wohnen, wie ihnen gründlich helfen ist. Wird sie Kinder ge¬
wahr, die ohne Vater und Mutter sind, ohne Heiniat, ohne Unterricht
und Zucht, sie ruht nicht eher, als bis in eine Familie sie dieselben ein¬
geführt. Die Kranken sucht sie zu pflege», Verirrten geht sie nach, sie
zurechtzuw'eisen, Gefallene ergreift sie, sie aufzurichten.
König Georg III. von England und Hannooer hat auch innere
Mission getrieben. Er war auf der Jagd und verfolgte mit großer An¬
strengung einen Hirsch. Endlich merkte er, daß sein Pferd müde wurde.
Er ließ den Hirsch laufen, stieg ab und führte das Pferd am Zügel.
Indem er langsam durch den Wald hinschritt, hörte er aus dem Dickicht
ein durchdringendes Geschrei: „Ach, meine Mutter, meine Mutter!
Gott erbarme sich meiner Mutter! Gott segne meine Mutter!" Der
König band sein Pferd an einen Baum und ging der Stimme nach.
Da fand er unter dem Schatten einer alten mächtigen Eiche eine Streu
von Gras, zur Hälfte mit einer Art Zelt überdeckt. Auf der Streu lag
ein Zigeunerweib von mittleren Jahren und rang mit dem Tode. Vor
ihr knieete ihr achtjähriges braunes Töchterchen und betete um ihre Mut¬
ter, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Während der König
dem Jammer zusah, kam ganz außer Athem eine zweite Tochter gelaufen
und brachte der Mutter Arzneien, die sie aus der Stadt geholt hatte.
Sie grüßte den Fremden höflich, eilte zur Mutter, knieete neben ihr nie¬
der, küßte ihr die bleichen Lippen und brach in Thränen aus. Nun
fragte der König diese ältere Tochter: "Was kann für euch gethan werden,
liebes Kind?" Sic antwortete: „Ach, Herr, meine sterbende Mutter
verlangt einen Geistlichen, der sie vor dem Tode belehren und mit ihr
beten möchte. Ich lief diesen Morgen schon vor Tagesanbruch nach der
Stadt und bat die Geistlichen; allein, ich konnte keinen mitbekommen,
unl mit meiner Mutter zu beten." Da setzte sich der König von Groß-
britanien auf ein Bündel Kleider, daö dalag, ergriff die Hand der
sterbenden Zigeunerin, sprach ftu ihr von ihrer Sünde und von dem, der
auch der Zigeuner Heiland geworden und für sie am Kreuze gestorben
sei. Mit kurzem dringlichem Gebete empfahl er sie seiner Gnade. DaS
Weib verstand noch alles. Sie schöpfte Trost und Hoffnung aus seinen
Worten. Ihr Auge blickte freudig, ihre Züge wurden mild, ein Lächeln
fuhr über ihr Gesicht, wie die Sonur über daö dürre Herbstfeld. Mit
diesem Lächeln verschied sie. Auf dem todten Antlitze thronte der Friede.
~ In diesem Augenbicke kamen einige von den Begleitern deö Königs,
die ihn gesucht hatten. Er stand auf, gab den Kindern noch einiges
Geld, versprach ihnen, sich ihrer anzunehmen, und wies auch sie hinauf
zu ihrem Gotte und Heiland. Dann wischte er die Thränen vom Auge
und bestieg sein Roß.
149. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erdcu.
Wenn alles eben käme, wie du gewollt es hast, wenn Gott dir
gar nichts nähme und gab dir keine Last: wie wärs da um^dein Ster¬
ben, du Menschenkind bestellt? — Du müßtest schier verderben, so lieb
wär dir die Welt!
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