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zu eigen gemacht hatte, bloß ein Werk seiner Anstrengung und Selbst¬
überwindung.
Er hatte seine Freunde gebeten, ihn sogleich zu erinnern, wenn
sie merkten, daß er zornig werde. Bei dem ersten Winke, den er dar¬
über erhielt, senkte er den Ton seiner Stimme und schwieg ganz.
Als er sich einmal über einen seiner Sclaven um einer Vergehung
willen entrüstet fühlte, sagte er zu ihm: „Ich würde dich schlagen,
wenn ich nicht im Zorne wäre." —
Der Mensch kann, was er soll, nnd wenn er sagt: Ich kann
nicht, so will er nicht.
So nennt uns die Geschichte Treue, welche die Qual der Fol¬
ter duldeten uitb doch das Geheimniß in tiefer Brust bewahrten.
Was verschloß ihren Mund? Was lehrte sie dulden und schweigen?
Die Treue, die Macht des Willens, die den Schmerz besiegt.
Die Geschichte nennt uns Redliche, die, weil des Recht ihnen heilig
war, Schätze ausschlugen und Kronen. Was lehrte sie dem entsagen,
wonach die Leidenschaft verlangt? Die Achtung des Rechts, die Macht
des Willens, welche die Begierde überwindet. Die Geschichte nennt
uns Großmüthige, welche Rache nehmen konnten an dem Feinde und
sie doch nicht nahmen, und dem wohl thaten, der ihnen wehe gethan
hatte. Was lehrte sie vergeben, was lehrte sic Böses mit Gutem ver¬
gelten? Die Liebe, die Macht des Willens, welche die Glut der
Rache dämpft.
Die Geschichte lehrt uns Menschenfreunde kennen, die freudig
und willig starben, um Unglückliche zu retten. Was lehrte sie sich auf¬
zuopfern? Was lehrte sie sprechen: Vater, nicht mein, sondern dein
Wille geschehe? Was machte sie fähig in Schmerz und Tod zu gehen?
Der Gehorsam gegen Gott, die Macht des Willens, die auch die Furcht
des Todes, die Liebe zrim Leben überwindet. In dem Anschauen sol¬
cher Thaten werden wir der Kraft, die auch uns zu dergleichen Hand¬
lungen fähig macht, bewußt. —
249. Die Sinnlichkeit im Kampfe mit dem Sittengesetz.
Ein armer Schornsteinfeger-Junge mußte auf einem gräflichen
Schlosse den Schornstein reinigen, der durch ein Kamin in ein Wohn¬
zimmer führte. Da er bis zum Kamin hinabgestiegen war, fand er
das Zimmer leer und blieb da ein Weilchen stehen, um sich an dem
Anblicke der schönen Sachen zu ergötzen, die darin waren.
Am meisten gefiel ihm eine goldene, mit Diamanten besetzte Uhr,
die auf dem Tische lag. Er konnte sich nicht enthalten, sie in die Hand
zu nehmen. Da stieg der Wunsch in ihm auf: Ach, wenn du doch
auch eine solche Uhr hättest!
Nach einer kleinen Weile dachte er: Wie, wenn du sie nähmest? —
Aber et, da wärest du ja ein Dieb!
Es würde es doch aber Niemand wissen — dachte er weiter.
Allein in dem Augenblicke hörte er ein Geräusch im Nebenzimmer; ge¬
schwind legte er dte Uhr wieder hin und eilte zurück in den Schorn-