Full text: Lesebuch in Lebensbildern für Schulen (3)

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123. Nur im Umgang mit Seinesgleichen wird der Mensch 
zum Menschen. 
Vor etwa hundert Jahren fuhr ein Bauer in einer Provinz 
Frankreichs in den benachbarten Wald, um Holz zu holen. Damals 
aber gab's in Frankreich noch Waldungen, die man in einem ganzen 
Tag raum durchwandern konnte, und tu welchen der Wolf in Heerden 
umherstreifte und der Bär in seiner Höhle lag. Der Bauer fuhr wei¬ 
ter hinein, als er wohl fönst pflegte und kam an einen großen Teich. 
Da sah er das Wasser sich bewegen, und wie groß war sein Er¬ 
staunen, als er in einiger Entfernung eine menschliche Gestalt mit 
langen, herabhängenden Haaren aus dem Wasser sich erheben und ans 
Land kommen sah, und bald darauf uoch eine. Voll Schrecken zog 
sich der Bauer ins Gebüsch zurück, denn nach dem Aberglauben jener 
Zeit fürchtete er in diesen Wesen sogleich Waldgeister und Wasserfrauen. 
Doch konnte er sich nicht versagen, zwischen den Zweigen hindurch zu 
schauen. Es waren zwei Mädchengestalten. Tue eine hob von dem 
Boden Etwas auf und betrachtete es voll Neugier; es schien ein Ko¬ 
rallenhalsband zu sein; die andere riß es ihr schnell aus der Hand. 
Da nahm die erste ecuen Stock und schlug dieser so auf die Hand, 
daß sie das Halsband fallen ließ und mit einem lauten Schrei zurück 
in den Teich sich warf. Die andere entfernte sich darauf von dem 
Wasser und schlug die gleiche Richtung ein, von welcher der Bauer 
her gekommen war. Der Bauer faßte sich ein Herz; er überzeugte sich 
immer mehr, daß es ein menschliches Wesen sein müsse. Er folgte 
ihm beständig und kam eitbltd) mit ihm in seinem Dorfe an. Da gab 
es nun ein gewaltiges Aufsehen. Jung und Alt liefen herbei, um das 
wilde Mädchen zu sehen. Man kam auf allerlei Vermuthungen; eud- 
liä) erinnerte sick) einer, daß vor etwa vierzehn Jahren zwei kleine 
Kinder aus einem benaä)barten Dorfe verschwunoen waren. Niemand 
hatte gewußt wohin, und alle Nachforschungen waren vergeblich gewe¬ 
sen. Man wollte sick) jetzt dem armen Gesä)öps verständlich machen; 
aber die große Menschenmenge hatte dasselbe so scheu gemacht, daß es 
an einem Baum mit der Sä-nelligkeit eines Eichhorns hinaufkletterte 
und in den oberstm Zweigen sick) verbarg. Alle Ermahnungen und 
Lockungen, herabzukommen, waren vergebliä). Endlich bemerkte man, 
daß es mit großer Aufmerksamkeit nach einer Bcmerin hinsah, welche 
ein kleines Kind auf dem Arme trug. Man beredete dieselbe, unter 
den Baum zu treten, während sick) Alle in einige Entfernung zurückzo¬ 
gen. Da gelang es der Bäuerin endlick) durch schmeichelnde Geberden 
und Worte das Mädchen von beut Baume herunter zu locken und in 
ein Haus zu führen. Das Erste war nun, es mit anständiger Klei¬ 
dung zu versehen, tutb nun bestürmte man es mit Fragen über sein 
bisheriges Leben. Aber in welchem bedauernswürdigen Zustand befand 
sich das arme Kind! Obgleich es wohl schon sechszehn Jahre alt sein 
mochte, so konnte es doch kein Wort reden, auch keins verstehen. 
Nur sonderbare Töne stieß es aus, die bald wie das Zwitschern der 
Vögel, bald wie das Quaken der Frösche, bald wie das Geheule der 
Wölfe lauteten. Es kannte nicht den Gebrauch des Messers, nicht des
	        
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