Full text: Deutsches Lesebuch für Mittelschulen

94. Das alte Germanien und seine Bewohner. 
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zum unentwirrbaren Knäuel, mit Schling¬ 
pflanzen und Farrenkräutern gefüllt, die 
nur hie und da, einer engen Pforte 
ähnlich, eine Oeffnung ließen, durch 
welche der Wanderer sich mit Mühe hin¬ 
durch arbeiten mußte. Nie hatte man 
hier den Klang der Axt gehört, mit 
der Erde selbst schienen diese Wälder 
aufgewachsen; kein Strahl der feuchten 
und ohnmächtigen Sonne drang durch 
dieses feste Dach und die schweren Nebel¬ 
wolken über ihm. Nur der Auerochs 
oder Büffel und Eber durchbrachen 
krachend das Gestrüpp; hier weideten 
noch der Elch, das Elenthier, der riesige 
Bockhirsch und das wilde Pferd, neben 
ihnen hausten feindlich Bär, Wolf und 
Luchs; Adler und Geier umkreisten die 
gefallene Beute, kleinere Schlangen 
schlüpften zwischen Moos und Gestein 
dahin, und seltsame Vögel mit unheim¬ 
lich leuchtendem Gefieder flatterten Nachts 
aus ihren Nestern empor. 
Bis zu den Küsten des nordischen 
Meeres zogen sich diese Waldungen hin¬ 
auf. Noch am abfallenden Strande 
griffen die nahrungsgierigen Eichen mit 
ihren Wurzeln um sich, bis sie krachend 
im Sturme niederstürzten, oder von der 
steigenden Fluth unterwaschen, große 
Stücke des Erdreiches in ihren gewal¬ 
tigen Armen auf die See mit sich hin¬ 
ausführten. Dann meinten voller Ent¬ 
setzen die römischen Seefahrer statt der 
feindlichen Flotten ganze Wälder auf 
den Wellen des Meeres schwanken zu 
sehen. Hier gab es Baumstämme, welche, 
zu Booten ausgehöhlt, dreißig Menschen 
zu fassen vermochten. Nicht minder 
schrecklich war die flache Küste. Die 
hochgehende Fluth rauschte heran, drang 
tief in das Land ein, und verlief sich 
wieder hinter weiten Dünenstrecken; 
Erde und Meer kämpften ohne Unter¬ 
laß um ihre Grenzen. Widerstandlos 
brauste der Sturm über die weiten 
Flächen, rasch setzte er um und jagte 
dunkle Wolken empor. 
Wie armselig war nicht das Leben 
dieser Küstenbewohner, die ein Spielball 
schienen zwischen Himmel, Erde uud 
Meer! Auf höheren Sanddünen oder 
auf hölzernen Gerüsten hatten sie ihre 
elenden Hütten aufgeschlagen; da saßen 
sie, Schiffenden gleich, wenn die Fluth 
das Land rings umher in einen See 
verwandelt hatte, oder Gestrandeten ähn¬ 
lich, wenn sie sich zurückzog. Sie ken¬ 
nen nicht Saat noch Ernte, nicht fried¬ 
liche Heerden, nicht einmal den gefähr¬ 
lichen Kampf mit reißenden Thieren, 
nur die Jagd auf Fische, die sie in 
Netzen fangen. Selbst klares Wasser 
ist ihnen am Meere versagt, aus Gruben 
schöpfen sie es, um den Durst zu löschen. 
Welch' elendes Dasein! Und dennoch 
nennen diese Völker es Knechtschaft, den 
Römern Unterthan zu sein! So schreibt 
Plinius, der Leben und Natur der ger¬ 
manischen Welt aus eigener Anschauung 
schildert. 
H. 
Aber nicht alle Germanen führten 
ein so kümmerliches Leben, wie die Be¬ 
wohner an der nördlichen Meeresküste, 
noch war das Land so wild, wie es 
dem Südländer auf den ersten Blick 
erschien. An Fruchtbarkeit stand es 
hinter anderen viel gepriesenen nicht 
weit zurück, aber die Bewohner ver¬ 
mochten noch nicht die Schätze zu heben, 
welche in dem Boden ruhten. Die 
Römer, selbst daran gewöhnt in großen 
Städten zu wohnen, fanden hier eine 
' andere Art des Daseins; denn es gab 
keine Städte, am wenigsten befestigte, 
keine zusammengehäuftenMenschenmassen. 
Hinter den Mauern wurde der Ger¬ 
mane vom Gefühl der Angst und Be¬ 
klemmung ergriffen, wie das edle Wild, 
welches man in Netz und Gruben ein¬ 
gefangen hat. Im Dunkel des Waldes, 
wo der Bach Ackerfeld und Buschwerk 
bewässerte, oder in offenen Dorfschaften 
waren die Häuser untereinander nicht 
verbunden; jeder schlug einzeln Haus 
und Hof auf. Der freie Mann war 
Vater und Haupt der Familie, Herr 
und König in seinem engen Gehege. 
Das häusliche Leben war einfach 
und natürlich, es ruhte auf der Rein¬ 
heit und Heiligkeit der Ehe und Familie. 
Abweichend von der Sitte anderer Natur¬ 
völker verbindet sich der Mann mit nur 
einem Weibe; nur ausnahmsweise bei 
edlen Geschlechtern, deren Erhaltung 
oder politische Verbindung es nothwendig
	        
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