Full text: Deutsches Lesebuch für Mittelschulen

29. Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack. 
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länger als eine Nacht verweilen. Das 
ist die Buße, die dir der Herr auflegt." 
Da nahm der Einsiedler das Stück 
Holz und ging in die Welt zurück, die 
er so lange nicht gesehen hatte. Er aß 
und trank nichts, als was man ihm an 
den Thüren reichte; manche Bitte aber 
ward nicht gehört und manche Thüre 
blieb ihm verschlossen, also daß er oft 
ganze Tage lang keinen Krumen Brod 
bekam. Einmal war er von Morgen 
bis Abend von Thüre zu Thüre gegangen, 
Niemand hatte ihm etwas gegeben, Nie¬ 
mand wollte ihn die Nacht beherbergen, 
da ging er hinaus in einen Wald und 
fand endlich eine angebaute Höhle, und 
eine alte Frau saß darin. Da sprach 
er: „Gute Frau, behaltet mich diese 
Nacht in Euren: Hause." Aber sie ant¬ 
wortete: „Nein ich darf nicht, wenn ich 
auch wollte. Ich habe drei Söhne, sie 
sind bös und wild; wenn sie von ihrem 
Raubzng heimkommen und finden Euch, 
so würden sie uns beide umbringen." 
Da sprach der Einsiedler: „Laßt mich 
nur bleiben, sie werden Euch und mir 
nichts thun," und die Frau war mit¬ 
leidig und ließ sich bewegen. Da legte 
sich der Mann unter die Treppe und, 
das Stück Holz unter seinen Kopf. Wie 
die Alte das sah, fragte sie nach der ^Ur¬ 
sache, da erzählte er ihr, daß er es zur Buße 
mit sich herum trage und Nachts zu 
seinem Kissen brauche. Er habe den 
Herrn beleidigt, denn als er einen armen 
Sünder auf dem Gange nach dem Gericht 
gesehen, habe er gesagt, diesem wider¬ 
fahre sein Recht. Da fing die Frau an 
zu weinen und rief: „Ach, wenn der 
Herr ein einziges Wort so bestrafet, wie 
wird es meinen Söhnen ergehen, wenn 
sie vor ihm im Gericht erscheinen." 
Um Mitternacht kamen die Räuber 
heim, lärmten und tobten. Sie zündeten 
ein Feuer an, und als das -die Höhle 
erleuchtete, und sie einen Mann unter 
der Treppe liegen sahen, geriethen sie 
in Zorn und schrieen ihre Mutter an: 
„Wer ist der Mann? Haben wir's nicht 
verboten, irgend Jemand aufzunehmen?" 
Da sprach die Mutter: „Laßt ihn, es 
ist ein armer Sünder, der seine Schuld 
büßt." Die Räuber fragten: „Was hat 
er gethan?" und riefen: „Alter, erzähle 
uns deine Sünden!" Der Alte erhob 
sich und sagte, wie er mit einem einzigen 
Worte schon so gesündigt habe, daß Gott 
ihm zürne und er für diese Schuld jetzt 
büße. Den Räubern ward von seiner 
Erzählung das Herz so gewaltig gerührt, 
daß sie über ihr bisheriges Leben er¬ 
schraken, in sich gingen und mit herz¬ 
licher Reue ihre Buße begannen. Der 
Einsiedler, nachdem er die drei Sünder 
bekehrt hatte, legte sich wieder zum Schlafe 
unter die Treppe. Am Morgen aber 
fand man ihn todt, und aus dem trocke¬ 
nen Holz, auf welchem. sein Haupt lag, 
waren drei grüne Zweige hoch empor 
gewachsen. 
Also hatte ihn der Herr wieder in 
Gnaden zu sich aufgenommen. 
29. Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack. 
(Märchen.) 
In einem kleinen Städtchen lebte 
ein ehrlicher Schneider mit seiner Fa¬ 
milie, die fünf Köpfe zählte: Vater, 
Mutter und drei Söhne. Letztere wur¬ 
den sowohl von den Eltern, als auch 
von sämmtlichen Einwohnern des Städt¬ 
chens nicht nach ihrem Taufnamen, son¬ 
dern schlechtweg nur: der Lange, der 
Dicke, der Dumme genannt. So folg¬ 
ten sie dem Alter nach aufeinander. Der 
Lange wurde ein Schreiner, der Dicke 
ein Müller, der Dumme ein Drechsler. 
Als nun der Lange aus der Lehre kam, 
wurde sein Bündelein geschnürt und er 
in die Fremde geschickt, und er zog wohl- 
gemuth und mit langen Schritten zum 
Thore des heimatlichen Städtchens hin¬ 
aus. Lange Zeit wanderte der Bursche 
von Ort zu Ort und konnte keine Arbeit 
bekommen. Da nun sein ohnehin knap¬ 
pes Reisegeld zu Ende ging und er keine 
frohe Aussicht hatte zu Arbeit und Ver¬ 
dienst, so wurde er traurig und ging 
kopfhängend und sachte auf seinem Wege 
weiter. Dieser führte just durch einen 
stillen, schönen Wald, und wie der Bursche
	        
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