Full text: Vaterländisches Lesebuch

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habe, mich heute Abend oder morgen früh zu entschuldigen, weil 
ich nicht kommen kann.— Da lachte er ganz laut, auf und sagt: 
„Ja, das müssen Sie ja thun, sonst werde ich bös; ich erwarte 
Sie um fünf Uhr, fehlen Sie ja nicht, wünsch' gesegnete Mahl¬ 
zeit." Und fort war er mit seinem Braunen. Ich weiß nun gar¬ 
nicht, was ich machen sol!; ich denk' aber, nun, fressen wird er 
dich nicht, er muß um fünf Uhr noch genug haben von Mittag her. 
Wie'ö also fünf geschlagen hat, geh ich hin, man weist mich 
in sein Comptoir, und da kommt er mir entgegen, nimmt mich 
bei der Hand, führt mich in das Cabinetcheü und sagt zu mir: 
„Lieber Herr Keller, Sie haben 10,000 Thaler bei mir, wenn 
Sie aber das Doppelte brauchen und noch mehr, sagen Sie mir's 
nur offen." — Ich sag': „ Sie irren Sich, ich habe nur für 
1000 Thaler." Da sagt er zu mir: „Cs bleibt dabei, wie ich 
schon gesagt habe; Sie sind ein Alaun, der zu sparen weiß, nnb 
heute Abend essen Sie ganz allein bei meiner Familie." Und so 
hab' ich's auch gemacht, inib das hat mir noch besonders gefallen, 
daß er die Geschichte seiner Frau mib seinen Kindern nicht er¬ 
zählt hat, bis ich von Leipzig fortgewesen bin. Cr hat wohl ge¬ 
merkt, daß es mir leid thäte, wenn man auch in aller Güte dar¬ 
über lachen würde. — So ist's mir durch die Gelbwnrst möglich 
geworden, eine der größten Tuchfabriken anzulegen, und so lange 
der alte Frege gelebt hat, hab' ich jede Messe bei ihm allein zu 
Nacht gegessen, und da ist immer zuletzt noch Gelbwurst aufge¬ 
tragen worden." 
8fl. Das Mittagessen im Hof. 
Man klagt häufig darüber, wie schwer und unrnöglich es sei, 
mit manchem Menschen auszukommen. Das inag denn freilich 
anch wahr sein. Indessen sind viele von solchen Menschen nicht 
schlimm, sondern nur wunderlich, und wenn man sie immer nur 
recht kennte, inwendig und auswendig, und recht mit ihnen um¬ 
zugehen wüßte, nie zu eigensinnig und nie zu nachgebend, so wäre 
Mancher wohl leicht zur Besinnung zu bringen. Das ist doch 
einem Bedienten mit seinem Herrn gelungen. Dein konnte er 
manchmal gar Nichts recht machen und mußte Vieles entgelten, 
woran er unschuldig war, wie es oft geht. So kam einmal der 
Herr sehr verdrießlich nach Hause itub setzte sich zum Mittagsessen. 
Da war die Suppe zu heiß oder zu kalt, oder keines von beiden; 
aber genug, der Herr war verdrießlich. Cr faßte daher die Schüssel 
mit dem, was darinnen war, und warf sie durch das offene Fen¬ 
ster in den Hof hinab. Was that der Diener'? Kurz besonnen
	        
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