Full text: Vaterländisches Lesebuch

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Worte; der Ochs« stieß ihn mit den Hörnen; das wklde Schwein 
verwundete ihn mit seinen Hauern und selbst der träge Esel gab 
ihm einen Schlag mit seinem Hufe. Das edle Pferd allein blieb 
schweigend stehen und that ihm nichts, obgleich der Löwe seine 
Mutter zerrissen hatte. 
„Willst du nicht," fragte ihn der Esel, „dem Löwen auch 
eins hinter die Ohren geben?" Das Pferd antwortete: „Ich 
halte es für niederträchtig, mich an einem Feinde zu rächen, der 
mir nicht mehr schaden kann." 
28. Der Hirsch am Bache. 
Ein Hirsch trank ans einem kleinen Gewässer und erblickte 
in demselben sein Bild.— „Fürwahr," rief er, „die Natur meinte 
es nicht böse mit mir; wenigstens mit meinem Kopfe nicht! Wie 
prächtig ist das Geweihe, das ihn schmückt! Nur meine Scheu» 
fei könnten etwas besser sein, und ich würde dann an vortreffli¬ 
cher Gestalt allen Thieren Trotz bieten." 
Indem er noch dieß sprach, hörte er in der Ferne Jagdhör¬ 
ner ertönen und sah die Hunde schon, die mit Bellen ans ihn zu 
eilten. Er flog über die Felder hinweg, und ließ seine Verfolger 
weit hinter sich. Jetzt kam er in den Wald; aber indem er auch 
hier ins Dickicht sich retten wollte, blieb er mit dem Geweih au 
den Aesten eines Baumes hängen, die Hunde kamen herbei und 
rissen ihn nieder. 
„Ach," seufzte er, indem er verschied, „ich Unglücklicher habe 
thörigter Weise meine Freunde für Feinde und meinen Feind für 
einen Freund gehalten! Die Schenkel, die ich tadelte, hatten mich 
beinahe schon gerettet; aber das Geweihe, das ich prieß, hat mich 
in'ö Berderben gestürzt." 
Nur selten wissen wir von unS selbst, was unS zum Heile, 
und was uns zum Unglück gereichen kann.' 
2tt. Der Rangstreit der Thiere. 
1. Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Thieren. 
„Ihn zu schlichten," sprach das Pferd, „lasset uns den Meuschen 
zu Rathe ziehen! Es^ist keiner von den streitenden Theilen und 
kann desto unparteiischer sein." 
„Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maul¬ 
wurf hören. „Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft 
tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen."
	        
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