Full text: Vaterländisches Lesebuch

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zu retten sei, und räumt nach der Verkühlung ab. Als er abge¬ 
räumt hatte, siehe, so war die ganze Glocke wohl ansgegossen 
und ohne Fehl. Voll Freude kehrt der Meister in die Stube zu¬ 
rück und sah nun erst, was für Uebels er gethan hatte. Der 
Lehrjunge war verblichen; der Meister wurde eingezogen und von 
den Richtern zum Schwert verurtheilt. Jnmittelst war auch die 
Glocke aufgezogen worden. Da bat der Glockengießer flehentlich, 
ob sie nicht noch geläutet werden dürfte: er möchte ihren Klang 
auch wohl hören, da er sie doch zugerichtet hätte, wenn er die 
Ehre vor seinem letzten Ende von den Herren haben könnte. Die 
Obrigkeit ließ ihm eö willfahren, und seit der Zeit wird mit dieser 
Glocke allen armen Sündern, wenn sie vom Rathhaus herunter 
kommen, geläutet. 
37. Erft besinnt, dann beginn's. 
Ein Tartar-Khan ritt einst mit seinen Großen ans die Jagd. 
Unterwegs begegnete ihm ein Derwisch, welcher einmal nach dem 
andern laut ausrief: „Wer mir 100 Goldstücke gibt, dem will ich 
eiuen guten Rath geben! " Der Khan war neugierig und fragte 
den Derwisch, worin sein guter Rath bestehe. „Du sollst ihn 
hören, Herr," antwortete der Derwisch, „wenn du Befehl ertheilst, 
daß mir die 100 Goldstücke ausgezahlt werden." Der Khan ließ 
ihm die Summe reichen, und der Derwisch sagte mit warnender 
Stimme: „Unternimm nichts, ohne vorher den Ansgang reiflich 
zu erwägen!" Darauf zog er seine Straße. Das Gefolge des 
Khan lachte und spottete über den Rath des Derwisches, welchen 
er sich so theuer hatte bezahlen lassen. Indessen der Khan äußerte 
darüber eine ganz andere Meinung. „Der gute Rath," sagteer, 
„welchen mir der Derwisch ertheilt hat, ist freilich eine sehr alte 
Klngheitsregel. Allein eben weil sie so allgemein ist, wird sie am 
wenigsten befolgt, und dies war es vielleicht, weswegen sie der 
Derwisch so hoch anschlug. In Zukunft soll sie mir nie aus dem 
Gedächtnisse kommen. Sie soll über alle Thüren meines Palastes, 
an alle Wände meiner Gemächer und auf meine sämmtlichen Ge- 
räthschaften mit deutlicher Schrift geschrieben werden." —• Nach 
einiger Zeit faßte ein ehrgeiziger Statthalter den Borsatz, den 
Khan aus dem Wege zu schaffen und sich des Thrones zu bemäch¬ 
tigen. Er erkaufte den Leibarzt für eine große Summe, und 
dieser versprach, dem Khan, sobald die Gelegenheit dazu sich zei¬ 
gen würde, mit einer vergifteten Lanzette zur Ader zu lassen. 
Diese Gelegenheit ereignete sich bald. Als aber deurArzt au dem 
silbernen Becken; welches zur Auffassung des Blutes vorgehalten
	        
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