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12. Endlich, als zwischen den Stoppeln schon der junge Klee
frisch und lebendig aufgrünt und das Faullieschen sich über und
über mit kleinen rotleuchtenden Blüten schmückt, kann man das Ende
der Erntearbeiten absehen. In der Scheune ist schon lange kein Platz
mehr, draußen auf dem Felde erheben sich mächtige Kornhaufen, die
späler mit der Dampfmaschine abgedroschen werden sollen. Eilig
werden die alten Schuhe zum Schuster geschickt und die Strümpfe
aus ihrem Sommerschlafe aufgerüttelt. Nun gilt es ja, sich zum
Erntefeste zu rüsten.
13. Der lette Wagen kommt hereingeschwankt. Die Mütze des
Fuhrmannes ist mit bunten Georginen verziert, und an Mähnen und
Schwänzen der Pferde flattern farbige Papierstreifen. Oben auf dem
Fuder sitzen die Frauen mit den aus Ähren geflochtenen Kränzen und
singen und jubeln aus Leibeskräften.
14. Als der Hausherr die größte Krone angenommen und sich
dazu das Sprüchlein hat aufsagen lassen, geht's zum Festessen. Süuße
Fruchtsuppe, daun ein großer Rinderbraten und gekochtes Obst und
alles, was das Herz begehrt. Für alle Kinder ist mitgedeckt. Lustige
Scherzworte fliegen hin und wieder, Messer und Gabeln klappern,
und eine Schüssel nach der andern wird geleert und wieder gefüllt.
15. Abends rückt die Musik ein, meistens ein Harmonikaspieler
oder auch ein paar Geiger und Flötenbläser. Dann gibt's auf festlich
geschmücktem Speicher einen lustigen Tanz, an dem Kinder und Er⸗
wachsene teilnehmen. Auch für den Magen wird weiter gesorgt. Die
Mädchen tragen dampfende Punschkrüge und gehäufte Teller mit be—
legten Butterbröten herbei.
16. Der Hausherr kommt mit seiner Familie, und die Leute
bringen ein Hoch auf ihn aus und danken für alles, was er ihnen
gibt. Der fromme Mann aber weist allen Dank von sich. Dem lieben
Gott gebühre er, der auch in diesem Jahr Regen und Sonnenschein
schickee und den Samen keimen und die jungen Pflanzen erstarken
und reichliche Frucht bringen ließ.
17. Spät abends geht es erst heim. Der Mond scheint taghell
durch die schwarzen Regenwolken, die an ihm vorüberjagen. O welch
sorgloses Gefühl, an die leeren Felder denken zu können, auf die es
nun niedergießen kann, so viel es will und mag.
18. Kartoffeln, Rüben und Pferdebohnen sind noch einzuheimsen,
aber das wird nicht mit zur eigentlichen Ernte gerechnet. Auch nicht
das Einbringen und Dreschen der Rübsen mit ihrem ölhaltigen Samen.
Das geschah schon im Juni, als das Roggenfeld noch dampfte und
der Kuckuck sein Lachen noch nicht eingestellt hatte.
Helene Voigt.