Full text: Deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts

Novalis. 
19 
Der Rreuzgesang der Ritter. 
(Aus „Heinrich von Ofterdingen".) 
Das Grab steht unter wilden Heiden, 
Das Grab, worin der Heiland lag, 
Muß Frevel und Verspottung leiben 
Und wird entheiligt jeden Tag. 
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme: 
„Wer rettet mich von diesem Grimme?" 
Wo bleiben seine Heldenjünger? 
Verschwunden ist die Christenheit! 
Wer ist des Glaubens Wiederbringer? 
Wer nimmt das Kreuz in dieser Zeit? 
Wer bricht die schimpflichsten der Kettelt 
Und wird das heil'ge Grab errettet!? 
Gewaltig geht auf Land und Meeren 
In tiefer Nacht ein heil'ger Sturm, 
Die trägen Schläfer aufzustören, 
Umbrachst er Lager, Stadt und Turm; 
Ein Klaggeschrei um alle Zinnen: 
„Auf, träge Christen, zieht von hinnen!" 
Es lassen Engel allerorten 
Mit ernstem Antlitz stumm sich sehn, 
Und Pilger sieht man vor den Pforten 
Mit kummervollen Wangen stehn; 
Sie klagen mit den bängsten Tönen 
Die Grausamkeit der Sarazenen. 
Es bricht ein Morgen, rot und trübe, 
Im weiten Land der Christen an, 
Der Schmerz der Wehmut und der Liebe 
Verkündet sich bei jedermann. 
Ein jeder greift nach Kreuz und Schwerte 
Und zieht entflammt von seinen! Herde. 
Ein Feuereifer tobt im Heere, 
Das Grab des Heilands zu befrein, 
Sie eilen fröhlich nach dem Meere, 
Um bald auf heil'gem Grund zu sein. 
Auch Kinder kommen noch gelaufen 
Und inehren den geweihten Haufen. 
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