Leben, wissenschaftliche Bedeutung des Aristoteles.
209
Aristoteles.
Alexander wollte alle Völker und Länder durch einen innigen Verkehr miteinander der-
knüpfen, den Formen und Begriffen des Orients den Geist des Abendlandes einhauchen und
die ganze Welt durch das Band griechischer Humanität in einen einzigen monarchischen
Staat vereinigen. Denselben Gedanken verfolgte ans dem Gebiete des Wissens sein großer
Lehrer Aristoteles; er wollte durch die Philosophie die geistigen Bestrebungen aller Zeiten,
aller Länder, alle Wissenschaften in ein Ganzes vereinigen. Alexanders Unternehmen schei-
terte; Aristoteles hingegen erreichte seinen Zweck, weil die Krast des Menschen auf dem Gebiete
des geistigen Lebens größer ist als in der äußern Welt. Seine Philosophie war die Grund-
läge der Forschung und Erkenntnis der späteren Jahrhunderte. Er hat auf alle Zweige des
menschlichen Wissens eingewirkt und nicht allein dem Abendlande und der christlichen Wissen-
schast, sondern auch dem Morgenlande und dem Islam Gesetze gegeben. Erst die neue Zeit
hat die Ergebnisse seines Nachdenkens und der von ihm gesammelten Erfahrungen berichtigen,
vermehren, zum Teil aber auch erst richtig verstehen können.
1. Aristoteles war 384 zu Stagira in Makedonien geboren. Sein Vater Nikomachos war
Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas IL und Schriftsteller im naturwissenschaftlichen
Fache; seine Mutter stammte von Chalkis auf Euböa. Er verlor vor dem siebzehnten Lebens-
jähre seine Eltern. Im Alter von siebzehn Jahren ging er nach Athen, wo er später Platos
Schüler wurde. Pluto erkannte den ausgezeichneten Geist und den gelehrten Fleiß seines
Zuhörers; er nannte ihn den Leser und den Geist seiner Schule. Zwanzig Jahre blieb
Aristoteles in Athen und scheint gegen das Ende dieser Periode als Lehrer, namentlich in
der Beredsamkeit, aufgetreten zu fein. Nach Platos Tode begab er sich nach Kleinasien und
von hier wurde er 343 von Philipp von Makedonien zur Erziehung Alexanders berufen.
Nach achtjährigem Aufenthalte in Makedonien kehrte er wieder nach Athen zurück und weilte
dort zwölf Jahre ununterbrochen. Er trat als Lehrer der Philosophie auf und zwar in den
schattigen Laubgängen {nfginaroi) des Lykeiou, eines Gymnasiums nahe bei dem Tempel des
Apollon Avxnog. Entweder von dem Teile dieses Gymnasiums, wo er lehrte, oder weil er
umherwandelnd zu lehren pflegte, erhielten seine Anhänger den Namen Peripatetiker. Er
soll täglich zwei Zusammenkünfte mit seinen Schülern gehalten haben, die eine am Morgen,
die andere am Abend, und zwar so, daß er in den Frühstunden einer auserwählten Anzahl
von Zuhörern die strengeren und tiefer eingehenden, in den Abendstunden einer größeren
Masse die leichteren Teile der Philosophie, vornehmlich Rhetorik, Dialektik und praktische
Philosophie vortrug. Jene ersten Vorträge.sollen akroamatische, die andern exoterische genannt
worden sein. — Nach Alexanders Tod wurde Aristoteles der Irreligiosität angeklagt. Er
begab sich nach Chalkis auf Euböa und starb daselbst 322. Er war ein Mann von erstaun¬
lichen Fähigkeiten, umfassendem, tiefem Geiste, durchdringendem Verstände, von einem prak-
tischen, auf das wirkliche Leben gerichteten Blicke, von edler, sittlicher Gesinnung. Als charak¬
teristische Züge werden von ihm angeführt eine große Lebhaftigkeit seines ganzen Wesens,
eine besondere Gabe überzeugender Beredsamkeit und eine sorgfältige Aufmerksamkeit auf sein
Äußeres, Kleidung und Pflege des Körpers.
2. Um die wissenschaftliche und schriftstellerische Eigentümlichkeit und Bedeutung des
Aristoteles zu verstehen, muß man sich sowohl an die damaligen Kulturverhältnisse der Griechen
als auch an die persönliche Stellung des Stagiriten erinnern. In Griechenland begann nach
der Periode des originalen Schaffens in Literatur und Kunst eine Periode der Reflexion über
Schöppner-König, Charakterbilder. I. 4. Stuft. 14