42 Erstes Kap. Geschichte der Völkerwanderung. 
Von wannen dieses mächtige Volk der Gothen gekommen, welches seine 
Abstammung und Urgeschichte sey, darüber herrschen zwei verschiedene Haupt¬ 
meinungen. Schriftsteller von Rang zählen sic zum großen thracischcn 
Volksstamme und halten sie für einerlei mit den Getcn, die wir schon zu He- 
rodot's Zeiten am südlichen Ufer des Jster, später aber am nördlichen finden. 
Nach der Anderen Meinung — welche sich zwar nicht auf gleichzeitige Schrift- 
zeugnisse, wohl aber auf uralte und von den Hanptgeschichtschrcibern der Gothen 
als ächt erkannte Ueberlieferungen, nicht minder aus die natürlichen Denkmale 
von Volks- und Ländernamen gründet — haben die Gothen inScan- 
dinavien, zumal in den südlichen Theilen von Schweden gewohnt, und 
find von da in dunkler Vorzeit — nach Pytheas Berichten wohl 300 Jahre 
vor Christus — über das baltische (codanische, gothanische) Meer an die pom- 
mcrschen und preußischen Küsten gekommen. 
Jornandcs Erzählung von den drei Schiffen, welche die ganze Aus¬ 
wanderung in sich enthalten — das eine die Ostgothen, das andere die 
Westgothen*) und das dritte die Gepiden — mag freilich ein Mährchen 
seyn, so wie die in noch ältere Zeiten zurückgehenden Sagen von Odin oder 
Wodan, dem großen Gesezgeber Scandinaviens, mehr der Mythe, als der 
Geschichte anzugehören scheinen. 
Mit einiger Bestimmtheit erkennen wir von dem Anfange unserer Zeit¬ 
rechnung bis gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts die Gothen um die 
Weichselmündung und längs der preußischen Gestade. Westlich an ihnen, um 
die Oder, Haussen die Vandalen mit den zu ihnen gehörigen Stämmen der 
Burgunder, Heruler, Langobarden u. A. Aber im Grunde mögen 
— die Uebereinstimmung in vielen Charakteren der Gestalt, Sitten und 
Sprache weift darauf hin — Vandalen und Gothen ursprünglich ein Volk 
seyn. 
Unter Marc Aurel finden wir einen gothischen Stamm, die Victo- 
falen, in dem großen markomannischen Bunde. Um dieselbe Zeit oder wenig 
später scheint die allgemeine Bewegung begonnen zu haben, welche die ganze 
•) Erst in der Mitte des dritten Jahrhunderts unterscheiden wir deutlich die Ost ro- und 
die V i si - (Ost- und West-) Gothen. Dem Jornandcs zufolge wäre solche Eintheilung 
und Lage schon aus Scandinavie» herrührend gewesen, und hätte bei allen Wanderungen 
der Gothen fortgedauert.
	        
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