G 19 
225 Im Sommer stünd' ich gern da draus 
Bisweilen auf dem Taubenhaus, 
Wo dicht dabei der Garten blüht, 
Man auch ein Stück vom Flecken sieht. 
Dann in der schönen Winterzeit, 
230 Als zum Exempel eben heut: 
Ich sag' es grad' — da haben wir 
Gar einen wackern Schlitten hier, 
Grün, gelb und schwarz; — er ward 
verwichen 
235 Erst wieder sauber angestrichen: 
Vorn auf dem Bogen brüstet sich 
Ein fremder Vogel hoffärtig — 
Wenn man mich etwas putzen wollt', 
Nicht daß es drum viel kosten sollt', 
Ich stünd' so gut dort als wie der, 
Und machet niemand nicht Unehr'! 
— Narr! denk' ich wieder, du hast dein 
Teil! 
Willt du noch jetzo werden geil? 
Mich wundert, ob dir nicht gefiel', 245 
Daß man, der Welt zum Spott und Ziel, 
Deinen warmen Ofen gar zuletzt 
Mitsamt dir auf die Läufe setzt', 
Daß auf dem G'sims da um dich säß' 
Mann, Weib und Kind, der ganze Käs! 250 
Du alter Scherb, schämst du dich nicht, 
Auf Eitelleit zu sein erpicht? 
Geh in dich, nimm dein Ende wahr! 
Wirst nicht noch einmal hundert Jahr. 
240 
Ferdinand Freiligrath. 
1810- 1876. 
Gesammelte Dichtungen. 5. Auflage. Stuttgart 1886 
1. Oo lieb', solang du lieben kannst! 
6. Dann kniest du nieder an der Gruft 
Und birgst die Augen, trüb und naß, 
— Sie sehn den andern nimmermehr — 
Ins lange, feuchte Kirchhofsgras 
7. Und sprichst: Oschau' auf mich her⸗ 
Der hier an deinem Grabe weint! lab, 
Vergib, daß ich gekränkt dich hab'! 
O Gott, es war nicht bös gemeint!“ 
8. Er aber sieht und hört dich nicht, 
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst; 
Der Mund, der oft dich küßte, spricht 
Nie wieder: „Ich vergab dir längst!“ 
9. Er tat's, vergab dir lange schon, 
Doch manche heiße Träne fiel 
Um dich und um dein herbes Wort — 
Doch still — er ruht, er ist am Ziel! 
10. O lieb', solang du lieben kannst! 
O lieb', solang du lieben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, 
Wo du an Gräbern stehst und klagst! 
1. O lieb', solang du lieben kannst! 
O lieb', solang du lieben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt, 
Wo du an Gräbern stehst und klagst! 
2. Und sorge, daß dein Herze glüht 
Und Liebe hegt und Liebe trägt, 
Solang ihm noch ein ander Herz. 
In Liebe warm entgegenschlägt! 
3. Und wer dir seine Brust erschließt, 
O tu' ihm, was du kannst, zulieb! 
Und mach' ihm jede Stunde froh, 
Und mach' ihm keine Stunde trüb! 
4. Und hüte deine Zunge wohl, 
Bald ist ein böses Wort gesagt! 
O Gott, es war nicht bös gemeint, — 
Der andre aber geht und klagt. 
5. O lieb', solang du lieben kannst! 
O lieb', solang du lieben magst! 
Die Stunde kommt, die Stunde kommt. 
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
	        
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