Der polnische Freiheitskampf. 611
gewesen waren, ihr Leben für die Rettung des Vaterlandes hinzugeben, in
die Wuth der Verzweiflung. Jetzt fühlte selbst Skrzynccki, daß er, wenn er
nicht alles Vertrauen verlieren wollte, sich zu dem Wagnisse einer großen
entscheidenden Unternehmung entschließen müsse. Der bereits früher, zur Un¬
zeit, vorgeschlagene Plan eines Angriffes auf die Garden, die in dem
Waldlande zwischen Bug und Narew, durch den ersten Strom von dem
russischen Hauptheere getrennt, völlig vereinzelt standen, wurde wieder ausge¬
nommen; und alle Vorbereitungen zu dem empfindlichsten Schlage, der den
Russen beigebracht werden konnte, wurden unter dem Schleier des tiefsten
Geheimnisses getroffen. Am 12. Mai, beim Einbrüche der Dämmerung
setzte sich das polnische Heer aus seinen Stellungen zwischen Kaluszyn und
Minsk gegen Sierock in Bewegung, um hier den Bug und die Narew zu
überschreiten und über die Garden herzufallen, ehe diese von seiner Annähe¬
rung etwas erfuhren und ehe der russische Oberanführer ihnen zu Hülfe eilen
konnte. General Uminski wurde deshalb mit 12,000 Manu zu Jeudrzejow
zurückgelassen, um den Feldmarschall Diebitsch in dem Glauben zu erhalten,
daß er fortwährend die polnische Hauptmacht vor sich habe. Dieser Plan
gelang vortrefflich. Diebitsch, der durch einen sonderbaren Zufall in derselben
Stunde, während das polnische Heer nach Sicrock abmarschirte, aus seinem
Hauptquartiere aufgebrochen war, um jenes bei Kaluszyn anzugreifen, stieß
auf Uminski, der sich fechtend zurückzog. In der Meinung, daß die Polen,
wie schon im April bei'einer ähnlichen Bewegung geschehen war, nur einer
entscheidenden Schlacht ausweichen wollten, kehrte Diebitsch mißmuthig hinter
den Kostrzyn zurück und verweilte hier bis zum 20. Mai, ohne eine Ahnung
von dem wahren Zusammenhange zu haben. Inzwischen war Skrzynccki über
den Bug und über die Narew gegangen und hatte nun die russischen Garden
vor sich, die er, wenn er sich mit dem Ungestüme, der dem Polen im An¬
griffe eigen ist, und mit seiner ganzen 46,000 Mann starken Macht aus sie
geworfen hätte, in dein größtcnthcils von dichtem Walde bedeckten Gebiete,
in dem alle Straßen enge Dcfilscs bilden, ohne Zweifel vernichten konnte,
da sie, wenn auch ausgezeichnete Truppen, um die Hülste schwächer waren
und der todesmuthigcn Begeisterung eines für Freiheit und Vaterland kämpfen¬
den Heeres nur soldatische Kriegszucht und Tapferkeit entgegenzusetzen ver¬
mochten. Aber Skrzynecki schien in dem Augenblicke, in dem die Rettung
des Vaterlandes in seine Hand gegeben war, der räthselhaftcn Macht eines
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