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Der polnische Frciheitskampf.
zum Glücke der Polen, die alle ihre Kräfte erschöpft hatten, während der
größte Theil des russischen Heeres noch gar nicht im Feuer gewesen
war. In der Nacht befahl Skrzpnecki den Rückzug, weil er sich in der
Unmöglichkeit sah, mit Truppen, die in völliger Auflösung begriffen
waren, am andern Morgen den Kampf zu erneuen. Gielgud, der
erst Tages vorher den Befehl erhalten hatte, seinen Rückmarsch von
Lomza über Ostrolenka anzutreten, so wie Sicrakowski, der das noch weiter
vorgegangene schwächere Corps Dembinski's in dessen Abwesenheit befehligte,
mußten ihrem Schicksale Preis gegeben werden. Um beide Heeresabthcilungen
wenigstens nicht in die Nothwendigkeit zu versetzen, ohne Widerstand das
Gewehr zu strecken, erbot sich General Dembinski, der sich im Hauptquar¬
tiere befand, weil er über die Untüchtigkeit Gielguds Beschwerde zu führen
hatte, diesem den Befehl zu überbringen, mit allen seinen Truppen nach Li¬
thauen aufzubrechen, wohin schon bei dem unbesonnenen Vordringen nach Ty-
koczpn General Chlapowski mit 100 Ofsiciercn und Unterofsicicrcn und eini¬
gen Hundert Gcmciuen vorausgesandt war. Der Rückzug des polnischen
Heeres vom Schlachtsclde bei Ostrolenka glich mehr einer regellosen Flucht,
als einem geordneten Marsche. Wenn Diebitsch den Zustand desselben geahnt
und nur seine Reiterei zu rascher Verfolgung abgeschickt hätte, wäre schwer¬
lich die Hälfte nach Warschau entkommen. Aber der russische Feldmarschall,
in der Voraussetzung, daß die Polen in geordneten Reihen abzögen, wagte
cs nicht, seinen Sieg zu benutzen, weil er vor allen Dingen seinen durch
unablässige Märsche ermüdeten Truppen, die in der Schlacht an Todten und
Verwundeten bei 3000 Mann verloren hatten, Ruhe gönnen und in der durch
so viele Truppenzüge erschöpften Gegend für die Hcrbcischaffung von Ver-
pflegungsmittcln sorgen zu müssen glaubte. Dadurch gewann Lubienski, dem
Skrzpnecki den Befehl über das Heer übergab, während er selbst nach War¬
schau vorauseilte, Zeit, die Fliehenden zu sammeln und wenigstens die noch
zu ihren Regimentern Haltenden zu ordnen. Am 29., nachdem er in drei
Tagen 15 Meilen zurückgelegt hatte, traf er mit den Trümmern des Heeres
in Praga ein. Von den 46,000 Mann, die Skrzpnecki vor vierzehn Tagen
über die Narcw geführt hatte, waren nur noch 10,000 schlagfertig unter den
Waffen; beinahe 9000 bedeckten mit ihren Leichen das Schlachtfeld von Ostro¬
lenka oder waren als Schwervcrwundete zurückgeblieben; mehrere Tausend
Mann hatten die früheren Kämpfe gekostet; 12,000 unter Gielgud und Dem-