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bereits in sehr früher Zeit eine sehr merkwürdige, eigenthümliche
Bildung erlangt. Indien ist für Ostasien der Mittelpunkts des geisti¬
gen Lebens geworden, und selbst das so streng abgeschlossene China
hat die Religion der Mehrzahl seiner Bewohner von Indien empfan¬
gen. Obgleich die Inder außerhalb ihres Landes nicht als Eroberer
aufgetreten sind und Auswanderungen in Großem nicht unternom¬
men haben, so fehlt es doch nicht an Spuren indischer Kolonien in
ostaftatischen Ländern. Indische Ansiedler haben ihre Religion und
Bildung auf tHr Insel Java verbreitet. Weniger haben die^Züge
nach Indien auf die dortige Bildung eingewirkt, obgleich Indien
seit den frühesten Erinnerungen bis zur Gegenwart der Sitz eines
großen Handelsverkehrs gewesen ist. Die reichen Gaben der Natur
und die Erzeugnisse des Kunstfleißes haben Indien stets zu einem
ganz vorzüglichen Anziehungspunkte für Herrscher und Völker ge¬
macht. Die Völker, welche den Handel mit indischen Waaren trie¬
ben, haben stets dadurch große Reichthümer gewonnen. Und doch
waren es mehr Gegenstände des feineren Lebensgenusses, welche die
westlichen Völker aus Indien holten. Im Vergleich mit der Aus¬
fuhr war die Einfuhr nur gering, da der Reichthum Indiens an
Erzeugnissen der Natur und des Kunstfleißes sehr wenige Bedürf¬
nisse übrig ließ, welche vom Auslande aus zu befriedigen waren.
Die arischen Inder besitzen die ausgezeichnete geistige Anlage ggj»
des indogermanischen Volksstammes. Bei ihrer Einwanderung aus 1 snb«.ct
einem Nordwestlande nach Indien, fanden sie sich von einer ganz
neuen reichen Welt umgeben; ihr Geist mußte mächtig angeregt und
zu einer neuen Weise der Thätigkeit getrieben werden. Das Land
nährte die Menschen nicht ohne Anstrengung und ließ sie nicht in
Trägheit verfallen: aber es belohnte die Arbeit mit den reichsten
Geschenken. Die größere Milde des Klimas, die Fruchtbarkeit des
Landes und seine freigebige Fülle an herrlichen Gaben mußten dem
neuen Leben eine heitere Farbe mittheilen und große Erleichterun¬
gen gewähren. Eine sinnige, tiefgefühlte Freude an der Natur,
eine freundliche Anschauung des Lebens durchdringt die älteren
Schöpfungen des indischen Geistes, das Nachdenken über die Natur
bildet die Grundlage der kontemplativen Richtung, die so eigen¬
thümlich mit der ältesten indischen Poesie verwebt ist. Ueberall in
der Natur erscheint dem Inder das Göttliche gegenwärtig.
Die Einwirkung der indischen Natur auf den Charakter des
Volkes zeigt sich ferner in der allen Indern eigenthümlichen Neigung
zur Ruhe. Zu dieser wird die in bestimmten Zeiten wiederkehrende
Hitze ohne Zweifel viel beigetragen haben. Die Inder sind in ihrer
äußeren Thätigkeit mehr unthätig, als träge; sic sind nicht unter¬
nehmend, aber sehr fleißig; sie können sehr ausdauernd sein und
große Beschwerden mit Geduld ertragen. Sie scheuen Mühselig¬
keiten und Gefahren mehr aus Furcht vor Störung ihrer Ruhe, als
aus Mangel an Muth, den sie besitzen. Die religiösen Lehren stellen
als höchstes Ziel des Strebens die absolute Ruhe auf, Beruhigung
jeder Leidenschaft im irdischen Leben, ewige Ruhe in Gott im zu¬
künftigen. Ein wichtiger Charakterzug der Inder ist ferner das
Stehenbleiben auf einer gewissen Stufe. Der indische Geist erreichte