Full text: Geschichte des Mittelalters (Theil 2)

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Schöpfungs¬ 
sage. 
ziehen, wie alles dieses die Zwerge stört und zum Wegziehen ver¬ 
leitet, so ist das auch bei den Riesen der Fall. Die letzter» schleu¬ 
dern oft große Felsstücke auf christliche Kirchen, diese treffen aber 
nicht oder fallen nieder ohne Schaden zu bringen. 
Nach den Vorstellungen des Nordens, welche im allgemeinen 
auch die des alten Deutschland gewesen zu sein scheinen, war vor 
der Erschaffung des Himmels und der Erde eine ungeheure Kluft, 
die Kluft der Klüfte, der Abgrund, die Finsterniß. In der Oede 
dieses Raums stehn die beiden Enden sich entgegen; von dem südlichen 
(Muspellsheim) geht Licht und Wärme, von dem nördlichen (Nifl¬ 
heim) geht Dunkel und grimme Kälte aus. In der Mitte zwischen 
beiden lag ein Brunnen, dem zwölf Ströme entflossen. Als diese 
so weit ab von ihrer Quelle kamen, daß der in ihnen enthaltene 
Feuertropfe erhärtete, wurden sie zu starrem Eis, mit dem sich die 
nördliche Seite der ungeheuren Kluft füllte. Aber der südliche Theil 
strömte milde warme Luft aus, und als diese das Eis berührte, be¬ 
gann es zu schmelzen und zu triefen, und die Tropfen belebten sich, 
und ein Mann wuchs daraus, den der Norden Pmir nannte, ein 
bösartiger Riese. Dieser entschlief und fiel in Schweiß, da wuchs 
unter seinem linken Arm Mann und Frau, und sein Fuß zeugte 
mit dem andern einen sechshäuptigen Sohn. Und aus dem weiter 
forttriefenden Eis entstand eine Kuh, und vier Milchströme stoffen 
aus ihrem Euter, von diesen nährte sich Umir. Die Kuh beleckte 
die salzigen Eisblöcke, da kam am Abend des ersten Tages eines 
Mannes Haupthaar hervor, am folgenden Tag das Haupt und am 
dritten Tag der ganze Mann. Er war schön, groß und stark und 
hieß Buri, sein Sohn Börr. Börr nahm eines Riesen Tochter zur 
Frau und zeugte mit ihr drei Söhne, Odin, Vili, Ve. Diese er¬ 
schlugen den Riesen Umir, und aus dessen Wunden lief eine solche 
Menge Blut, daß alle Riesen darin ertranken; nur einer entkam 
mit seiner Frau in einer Wiege, und von ihnen stammt das jüngere 
Riesengcschlecht. Die drei Brüder warfen den Leichnam Fjinirs in 
die ungeheure Kluft und schufen aus seinem Blut die See, aus dem 
Fleisch die Erde, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen und 
zerbrochenen Knochen die Felsen und Klippen, aus dem Haar die 
Bäume. Aus dem gewaltigen Schädel machten sie den Himmel, an 
dem sie die aus dem Süden umherfahrenden Feuerfunken befestigten, 
daß alles von ihnen erleuchtet wurde. Die Erde war rund und von 
tiefem Meer umgeben, dessen Strand die Riesen bewohnen sollten. 
Um gegen diese die inwendige Erde zu schützen, wurden aus Amirs 
Brauen eine Burg erbaut. Des Riesen Hirn bildete, in die Luft 
geworfen, die Wolken. 
Noch aber fehlte der Mensch. Börrs Söhne gingen zum Meer¬ 
strand, fanden da zwei Bäume und schufen aus diesen zwei Men¬ 
schen, einen Mann und ein Weib, Askr und Embla. Odin gab 
ihnen Seele und Leben, Vili Witz und Gefühl, Ve Antlitz, Sprache, 
Gehör und Gesicht. — Die Zwerge endlich wurden erschaffen und 
empfingen Leben in Umirs Fleisch, der Erde, in welcher sie wohnen 
wie im Fleisch die Maden, die Götter schenkten ihnen Gestalt und 
Verstand der Menschen, sie blieben aber in der Erde und in den
	        
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