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Sobald er die Hörner unterscheiden kann, schiesst er. Geht die
Gemse mit vorrückendem Tage höher hinauf, so sucht er unver¬
merkt höher zu kommen, und schneidet ihr den Weg ah. Schwer
ist es dem Jäger, einer ganzen Heerde beizukommen; eine einzelne
nur ist meistens seine Beute. Sie hat ein sehr zähes Leben , und
wenn er nicht Kopf oder Brust trifft, so hat er gewöhnlich das
Nachsehen. Oesters stürzt auch die Gemse in einen Abgrund, dass
sie gänzlich unbrauchbar wird. Am gefährlichsten für den Jäger
wird das Verfolgen, wenn die Gemse auf flache und steile Felsen-
massen flüchtet, und der Jäger nachsteigt. Hier versteigt er sich
oft so, dass er weder vor- noch rückwärts kann, und froh sein
muss, wenn er nach stundenlangem Bemühen sich retten kann.
Er soll sich dann öfters Hände und Füsse aufschneiden, um durch
das klebende gerinnende Blut sich besser anhalten zu können. Hat
der Jäger nun endlich eine oder gar zwei Gemsen erlegt, so fängt
die Last und Noth erst an; denn er muss nun mit der schweren
Bürde wegsame Gegenden aufzufinden suchen. Zuerst weidet er
die Thiere aus, bindet die vier Füsse zusammen, und hängt sie
quer über die Stirn, so dass der Körper der Thiere über den
Rücken des Jägers hängt. So beladen steigt er, an den Alpenstock
sich lehnend, behutsam hinunter.
Eisige Winde, Schneegestöber, dichter, undurchdringlicher Nebel
und Stürme bereiten dem Gemsenjäger Gefahren, denen er selten
auf die Dauer entgeht. Allein die Leidenschaft ist bei diesen Men¬
schen so stark, dass mancher auf der Jagd gestürzte Jäger, kaum
geheilt, wieder in die Gebirge eilt, um frische Wunden oder den
Tod zu holen.
Der ganze Gewinnst beträgt drei bis vier grosse Thaler, welche
man für eine Gemse zahlt. Das Fleisch von jungen, nicht zu
alten Thieren ist sehr schmackhaft, und aus dem Leder werden
vortreffliche Handschuhe verfertigt. Kaup.
75. Der Alpenjäger
Es donnern die Höhen, es zittert der Steg,
Nicht grauet dem Schützen ans schwindligem Weg.
Er schreitet verwegen
Aus Feldern von Eis;
Da pranget kein Frühling,
Da grünet kein Reis;
Und unter den Füßen ein' nebliges Meer,
Erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr;
Durch den Riß nur der Wolken
Erblickt er die Welt,
Tief unter den Wassern
Das grünende Feld. Schiller