131
mäßig überzieht. Da kommen die hübschen Muscheln und die wunder¬
lichen Ungethüme des Meeres zu Tage, die sich auf dem Grunde ver¬
säumten, da sieht man die versandeten Wracks und Balken des ehe¬
mals gestrandeten Schiffs, da zeigen sich im Sonnenschein die Korallen
und Kräuter, die in der dunkeln Tiefe des Meeres wuchsen. Auch sonst
ist die Ebbe viel reicher an Contrasten der Lichter und Farben, als die
Fluth, die Alles mit Einer Farbe überzieht. Selbst in der Luft herrscht
zur Zeit der Ebbe regeres Leben, denn die Vögel machen sich heran,
um der Ebbe zu folgen Sie finden, wie das arme Bettelvolk der
Küstenstädte, ihre Tafel auf den Sandbänken reichlich gedeckt. Die
Strandläufer, die Möwen, selbst die Schnepfen und Störche flattern
oder wandeln am Strome oder auf den entblößten Lagunen, um auf
das Seegewürm Jagd zu machen. Während der Fluthzeit, die ihnen
einen Theil ihrer Nahrung entzieht, sitzen sie dann ruhig am Lande,
auf den Wiesen, hinter den Deichen, mit dem unpoetischen Geschäfte
der Verdauung beschäftigt. I. G. Kohl.
81. Der Sersturm.
Befindet sich ein Schiff auf hohem Meere, weit von den Küsten,
so vermag es bei starkem Bau und vernünftiger Führung viel zu er¬
tragen, wenn es nur immer in dem Zuge des Windes bleibt. In der
Nähe der Küsten aber ist es bei heftigem Sturm gewöhnlich rettungslos
verloren; es wird auf dieselben geschleudert und zerschellt am User,
denn furchtbar und unwiderstehlich für die schwachen Werke von Men¬
schenhand ist der Aufruhr der Natur. Gewöhnlich geht eine bedrohliche
schwüle Stille dem Toben des Sturms vorher; das Meer beginnt ohne
sichtbare Ursache zu wallen; nun kommt ein heulender Wind heran, der
zischend und pfeifend durch das Tauwerk fährt; die Matrosen klettern
an den Strickleitern empor, raffen die Segel ein und binden sie zu¬
sammen. Die Luken werden nach allen Seiten hin geschlossen, um den
anschlagenden Wellen das Eindringen zu verwehren. Kaum hat dies
geschehen können, als auch schon mit erneuter Gewalt der Sturm daher
braust, die Wogen peitscht, immer höher hinauf treibt, bis sie den er¬
schreckten Bewohnern des Schiffes wie Berge, und ihre Thäler wie
furchtbare, bodenlose Abgründe erscheinen. Schon hat das Meer seine
Durchsichtigkeit verloren; schwarz sieht es aus und öffnet einen gähnen¬
den Schlund nach dem andern. Endlich sinkt die Nacht hernieder; da
erscheint der Himmel flach; die Sternbilder werden größer; die Pla¬
neten und die hellsten Fixsterne bekommen in dem zitternden Duft, in
dem Alles schwimmt, ein kometenartiges Ansehen, und immer wüthender
und wilder rast der Sturm daher; er schleudert das Schiff hinab, hin¬
auf; von einer Wellenkuppe treibt er es hinunter, daß die Spitze des
vordersten, schräg hinaus liegenden Mastes in das Wasser taucht: jetzt
steigt es bergan, und steil und hoch in die Luft ragt desselben Mastes
Spitze, weit im Bogen das Wasser schleudernd, das er gefaßt hat.
9*