Full text: Deutsches Lese- und Sprachbuch für die Oberstufen der Volks- und Bürgerschulen (Abt. 3)

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Stimme diejenigen bei Namen aus, welche sich zuerst gegen einander 
versuchen sollten. Zuweilen erschien auch wohl ein Ritter mit ge¬ 
schlossenem Visir, der unerkannt bleiben wollte bis zu Ende des Festes. 
Ein solcher wurde aufgerufen nach seinem Wappenschilde, z. B. Löwen¬ 
ritter, Drachenritter. Doch mußte er zuvor unter dem Siegel der Ver¬ 
schwiegenheit den Kampfrichtern seinen Namen angegeben haben, damit 
kein unritterlicher Mann sich zudränge. Trompeten gaben das Zeichen 
zum Angriffe. Und auf ihren Schall tummelten die beiden Gegner ihre 
Rosse und sprengten mit eingelegter Lanze in vollem Galopp auf 
einander los. Die Spitze stand über des Pferdes linkes Ohr hinaus, 
das Ende des Schaftes hielten sie fest unter dem Arme. Wer gut^traf 
und selbst fest im Bügel saß, warf durch den gewaltigen Stoß seiner 
Lanze den Gegner entweder aus dem Sattel, oder er zersplitterte seine 
Lanze an dem stählernen Brustharnische. Beides galt als Sieg. Denn 
blieb die Lanze des Gegners unversehrt, so war das ein Zeichen, daß 
er gar nicht oder doch nur schlecht getroffen hatte. Oft auch vertauschte 
der Ritter seine gebrochene Lanze mit einer andern; mancher brach sogar 
sünfzig Lanzen an einem Tage. Nach dem ersten Kämpferpaare wurde 
das zweite aufgerufen, dann das dritte, vierte und so ging es weiter, 
meist drei Tage, oft aber auch Wochen lang. Manchmal traten die 
Ritter auch schaarenweise gegen einander auf. 
Den Beschluß der Ritterspiele machte die Verkeilung des Dankes, 
d. h. des Preises. Dieser wurde nach dem Ausspruche der Kampf¬ 
richter demjenigen Ritter ertheilt, welcher sich am meisten ausgezeichnet 
hatte. Er galt eben so viel, als ein Sieg auf dem Schlachtfelde. 
Unter dem Schalle der Pauken und Trompeten wurde der Name des 
Siegers mit lauter Stimme ausgerufen. Dann nahete sich dieser ehr¬ 
erbietig den Damen, 'welche den Dank vertheilten, und empfing auf den 
Knieen aus schöner Hand irgend ein theures Kleinod, einen Helm, oder 
ein Schwert, oder eine goldene Kette, oder einen Ring und dergl. Die 
Pauken und Trompeten erklangen dabei auf's Neue. Dann ward der 
Sieger feierlich, unter gewaltigem Zulaufe der schaulustigen Menge, in 
das Schloß geführt. Hier empfing ihn ein schöner Kranz von Edelsrauen, 
welche ihm die schwere Rüstung abnahmen und ihn mit den pracht¬ 
vollsten Feierkleidern schmückten. Am Abende folgte ein kostbarer Schmaus 
und großer Ball. An der Tafel bekam der Sieger einen Ehrenplatz 
und wurde zuerst bedient; er eröffnete am Abende auch den Ball. 
Th. B. Welter. 
8. Erziehung eines Nilterknuben. 
Schon im siebenten Jahre ward der Knabe von edler Herkunft in 
das Schloß eines andern Ritters gebracht. Hier lernte er als Bube 
im Dienste seines Herrn und im ehrfurchtsvollen Umgänge mit Edel¬ 
srauen die Anfangsgründe der Rittertugenden. Er wartete bei der Tafel 
auf, säuberte die Waffen, hielt seinem Herrn beim Aufsteigen die Bügel 
und übte fick im Fechten, Schießen und Reiten, um seinen kleinen Körper
	        
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