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60. Die Kaiserproklamation zu Versailles.
Die größte und segensreichste Errungenschaft des von den
Franzosen so freventlich heraufbeschworenen Krieges ist die Wie¬
deraufrichtung des deutschen Reiches. Blut und Eisen hatten die
deutschen Stämme schnell geeint und Fürsten und Volk erkennen
gelehrt, daß nur im treuen und festen Zusammenhalten das Heil
des Vaterlandes liege. Darum traten noch während des Feld¬
zuges Baieru, Würtemberg, Baden und Hessen dem bisherigen
norddeutschen, nunmehr deutschen Bunde oder deutschen Reiche
bei, und sämtliche Fürsten und freien Städte boten auf An¬
regung des Königs Ludwig von Baiern dem preußischen Helden¬
könige die Kaiserkrone an.
Am 18. Januar 1871 versammelten sich die bei der Be¬
lagerung von Paris anwesenden Fürsten, Prinzen, Generale und
Minister in dem prachtvollen Königsschlosse zu Versailles, um
der Erhebung des neuen deutschen Kaisers beizuwohnen. Nach
einer ergreifenden Predigt über Psalm 21 trat der greise Herrscher
vor und erklärte mit bewegter Stimme, daß er die ihm so ein¬
mütig angetragene Kaiserwürde für sich und seine Nachkommen
hiermit annehme. Dann überreichte er dem Reichskanzler Fürsten
Bismarck eine an das deutsche Volk erlassene Proklamation, in
welcher es heißt:
„Wir übernehmen die Kaiserliche Würde in dem Bewußtsein
der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner
Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit
Deutschlands zu stützen und die Kraft des Volkes zu stärken.
Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß es dem deutschen Volke
vergönnt sein werde, den Lohn seiner heißen und opferwilligen
Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu
genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte
Sicherheit gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren werden.
Uns aber und Unsern Nachfolgern in der Kaiserkrone wolle Gott
verleihen, allzeit Mehrer des deutschen Reichs zu fein, nicht in
kriegerischen Eroberungen, sondern in den Werken des Friedens
auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung!"
Als Fürst Bismarck die Verlesung dieser wahrhaft kaiser¬
lichen Proklamation beendet, rief der Großherzog von Baden,
und die ganze glänzende Versammlung rief es mit ihm:
„Es lebe hoch König Wilhelm, der deutsche Kaiser!"
Druck von Emil Herrmann senior in Leipzig.