L99
110. Camillus.
i.
Die Eroberung Veji's.
Gegen Ende des fünften Jahrhunderts, während Griechenland an
den selbstgeschlagenen Wunden des peloponnesischen Krieges sich verblu¬
tete, nahm das römische Volk den jugendkrästigsten Aufschwung zu sei¬
ner künftigen Größe. Sein Gebiet erstreckte sich damals ostwärts über
Latium und das Land der Sabiner bis an den sucinischen See, den
jetzigen Lago di Colano. Aber nach Norden hin hielt der Staatenbund
der Etrusker die Fortschritte der römischen Waffen in enge Grenzen ein¬
geschränkt. Namentlich setzten ihnen die etrurischen Städte Falerii,
Cayena und Veji einen zähen Widerstand entgegen; und wiederum
unter diesen dreien war die, Rom ganz nahe gelegene Stadt Veji fast für
sich allein eine den Römern ebenbürtige Gegnerin. Sie stand nicht bloß,
was die Menge streitbarer Mannschaft und der Kriegsmittel betraf, um
nichts hinter Rom zurück; ihre Reichthümer, ihr Ansehn und der bei
aller Ueppigkeit des Lebens doch hochstrebende, mannhafte Geist ihrer
Bürger machte sie verwegen genug, mit Rom einen Wettstreit um den
Vorrang aufzunehmen.
In diesem Kampfe konnte sie freilich nicht lange das offne Feld
behaupten; wiederholte Niederlagen nöthigten die Vejenter, sich hinter
die Mauern ihrer Stadt zurückzuziehen. Aber die Höhe und Stärke die¬
ser Bollwerke, der aufgespeicherte Ueberfluß von Waffen und Vorräthen
aller Art setzte sie in Stand, einer Belagerung ruhig zuzusehen, welche
für den Feind bei weitem beschwerlicher und aufreibender war, als für sie.
In der That lief das siebente Kriegsjahr zu Ende, und die Römer
sahen sich um nichts gefördert. Uebel und Entbehrungen ganz neuer Art
brachte diese den Römern noch ungewohnte Weise der Kriegsführung mit
sich. Hatten sie bisher nur während des Sommers dem Waffenyand-<
werk obgelegen und den Winter in Ruhe bei den Ihrigen zugebracht,
so sahen sie sich jetzt genöthigt, auch in der rauhen Jahreszeit rm befe¬
stigten Lager auf feindlicher Erde den Krieg aus einem Jahre in das
andere fortzuspinnen. Der Unmuth des Kriegsvolkes kehrte sich gegen die
eigenen Führer. Sie wurden wegen lässigen Betriebs der Belagerung
in Anklage gesetzt, ihrer Stellen enthoben und der Krieg in andere Hände
gelegt. Aber der Wechsel der Personen führte nicht, wie man gehofft,
einen Wechsel der Ereignisse mit sich.
Veji war ein neues Ilium geworden. Das zehnte Jahr seiner
Umlagerung war vorhanden (369 v. Chr.): das verhänanißvolle zehnte,
welches auch diese kühne und stolze Stadt dem Schicksalsspruche ent¬
gegenführte:
Einst wird kommen der Tag, da die herrliche Jlios hinsinkt!
Die Wage schwankte noch — wie so manches Mal im Entschei¬
dungskampfe zweier gleichmächtiger Völker— in bangender Ungewißheit:
noch wenige Momente zuvor, ehe das Todesloos des unterliegenden seine
Schale in die Tiefe zog. Rom glaubte an seinen eigenen Untergang und
Veji an seine Befreiungsstunde. Denn eben damals erlitt ein gegen
Veji's Verbündete, gegen die Falisker und Capenaten, ausgesandtes