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25. Der Quäker und der Straßenräuber.
Toby Simpson, ein ehrsamer Quäker, besaß zu London ein hüb¬
sches kleines Haus, dessen schönster Schmuck seine siebzehnjährige Toch¬
ter war. Viele und reiche Männer warben um die liebliche Marie, aber
das bescheidene Mädchen zog ihnen allen Eduard Weresford vor, einen
jungen Maler, der im Hause aus- und einging. Eduard war nicht
reich, aber er durfte seiner kunstgeübten Hand sicher vertrauen. Sein
Vater, ein alter Kaufmann der City, ff hatte sein ursprüngliches Ver¬
mögen auf mehr als das Zehnfache gebracht und sich zur Ruhe begeben,
ein seltenes Beispiel glücklicher Spekulationen; ja viele Leute konnten
nicht begreifen, wie es damit eigentlich zugegangen. Er lebte einsam
und verschlossen in einer Londoner Vorstadt und kümmerte sich wenig um
das Thun und Lassen seines Sohnes; er war einer der bequemen Egoi¬
sten, die Niemand belästigen, um selbst Ruhe zu haben, und äußerst
gefällig sind, wenn man nichts von ihnen haben will. Eduard war
daher vor einer Einsprache von Seiten seines Vaters völlig sicher, und
Toby verschob den Tag, der sein eigenes und seiner Kinder Glück krö¬
nen sollte, nur darum, weil ihm seine Pachtgelder, mit denen er die Hoch¬
zeit zu bestreiten dachte, nicht eingegangen waren. Er begab sich deshalb
auf sein Landgut, wenige Meilen von'London. Er blieb einen Tag aus,
und als er spät Abends heimritt, bemerkte er auf einmal eine kurze
Strecke vor sich einen Reiter, der ihm den Weg sperren zu wollen schlen.
Er hielt an, unschlüssig, ob er weiter reiten oder umwenden sollte.
Inzwischen kanl der Reüer auf ihn zu. Der Quäker zog fest seines
Weges weiter; als er aber am Andern vorbeiritt, beinerkte er mit
Schrecken, daß er eine Larve trug, und ehe er sich noch besinnen konnte,
sah er eine Pistole auf sich gerichtet und hörte sich die Börse abfordern.
Dem Quäker fehlte es keineswegs an Muth, aber er war ruhiger
Gemüthsart, seine Religion machte ihm Friedfertigkeit zur Pflicht, zudem
konnte er gegen den Bewaffneten nichts ausrichten, und so zog er ganz
gelassen einen Beutel mit 12 Guineen aus der Tasche. Der Räuber
nahm ihn, zählte das Geld und ließ den Quäker ziehen, der den Han¬
del abgethan meinte und sein Pferd in Trab setzte. Aber jener, gelockt
durch den geringen Widerstand und die Hoffnung auf weitere Beute,
sprengte dem ehrlichen Toby nach, sperrte ihm wieder den Weg und
rief mit der Pistole in der Hand: „Die Uhr!" Der Quäker zog kalt¬
blütig die Uhr heraus, sah nach, welche Zeit es war, und überlieferte
dem Räuber das Kleinod mit den Worten: „Jetzt aber laß mich nach
Hause; meiner Tochter würde bang, wenn ich ausbliebe." „Nur noch
einen Augenblick!" erwiderte der verlarvte Reiter, der durch diese Demuth
immer kecker ward, „schwöre, daß du sonst kein Geld —" „Ich schwöre
niemals," unterbrach der Quäker. „So versichere wenigstens, daß du
sonst kein Geld bei dir hast; kannst du dies, so sollst du ruhig deines
Weges ziehen; ich mag gegen einen Mann, der sich so vernünftig beträgt,
keine Gewalt brauchen."
Toby besann sich einen Augenblick und sagte dann ernst: „Wer du
auch seift, du merkst, daß ich ein Quäker bin und von der Wahrheit
1) Die City ist eine der ältesten, winkligsten Theile Londons, sie liegt östlich
vom linken Themseufer und gilt als der Sitz des Großhandels und der wohl¬
habenden Bürgerklasse.